Winterjournal (German Edition)
von deinem linken Arm auf den rechten umzuwechseln, von deinem rechten Arm auf den linken, zwischendurch einen davon auf den Rücken zu nehmen und die anderen beiden mit den Händen zu tragen, immer wieder das Gewicht zu verlagern, das insgesamt etwa fünfzig Kilo betragen muss, und bei alldem gerätst du natürlich ins Schwitzen, in der Hitze der Nachmittagssonne strömt es dir aus allen Poren, und als du es endlich zum nächsten Taxistand geschafft hast, bist du vollkommen erschöpft. «Siehst du», sagst du zu deiner Frau, «ich hab dir gesagt, ich kann das.» Sie lächelt dich an, wie man einen schwachsinnigen Zehnjährigen anlächelt, denn Tatsache ist, dass du es zwar zum nächsten Taxistand geschafft hast, dort aber keine Taxis warten, da sämtliche Fahrer der Stadt zur Gare de Lyon unterwegs sind. Euch bleibt nichts anderes übrig, als da zu bleiben und zu hoffen, dass irgendwann doch mal einer vorbeikommt. Die Minuten vergehen, dein Körper kühlt mehr oder weniger auf Normaltemperatur ab, und dann, gerade als sich ein herannahendes Taxi blickenlässt, seht ihr eine Frau auf euch zukommen, eine junge, enorm große Afrikanerin in bunten afrikanischen Kleidern, hoch aufgerichtet, ein schlafendes Baby in einem Wickeltuch vor der Brust, eine schwere Einkaufstüte in der Rechten, eine zweite schwere Einkaufstüte in der Linken, eine dritte schwere Einkaufstüte auf dem Kopf. Du siehst ein Inbild menschlicher Anmut, die weiche, fließende Bewegung ihrer Hüften, die weiche, fließende Bewegung ihres Gangs, eine Frau, die ihre Last, so erscheint es dir, mit einer Art von Weisheit trägt, die Gewichte gleichmäßig verteilt, Hals und Kopf vollkommen still, die Arme vollkommen still, das schlafende Baby an ihrer Brust, und nach der peinlichen Mühe, die dich der Koffertransport bis zu dieser Stelle gekostet hat, kommst du dir in ihrer Gegenwart nur noch lächerlich vor, eingeschüchtert von der Tatsache, dass ein Mitmensch genau das, was dir missraten ist, so souverän meistern kann. Sie geht immer noch auf euch zu, als das Taxi heranfährt und neben euch hält. Erleichtert und glücklich stellst du das Gepäck in den Kofferraum und lässt dich zu Frau und Tochter auf die Rückbank gleiten. «Wohin?», fragt der Fahrer, und als du ihm das Fahrtziel nennst, schüttelt er den Kopf und sagt, ihr sollt wieder aussteigen. Du glaubst ihn nicht richtig verstanden zu haben. «Wovon reden Sie?», fragst du. «Ich rede von der Fahrt», antwortet er. «Die Strecke ist zu kurz, ich habe nicht vor, meine Zeit für ein so mickriges Fahrgeld zu vergeuden.» – «Keine Sorge», sagst du, «Sie bekommen ein gutes Trinkgeld.» – «Ihr Trinkgeld ist mir egal», sagt er. «Ich will nur, dass Sie aussteigen – sofort.» «Sind Sie blind?», sagst du. «Wir haben ein Baby und fünfzig Kilo Gepäck. Was erwarten Sie – dass wir zu Fuß gehen?» – «Das ist Ihr Problem, nicht meins», antwortet er. «Raus.» Es verschlägt dir die Sprache. Wenn der Mistkerl auf dem Fahrersitz euch nicht zu der Adresse bringen will, die du ihm genannt hast, was bleibt dir anderes übrig, als auszusteigen, euer Gepäck aus dem Kofferraum zu holen und auf ein anderes Taxi zu warten? Inzwischen kochst du vor Wut, so wütend und verbittert bist du seit Jahren nicht mehr gewesen, nein, du bist wütender, verbitterter, empörter, als du jemals gewesen warst, und als du das Gepäck aus dem Kofferraum geholt hast und das Taxi sich in Bewegung setzt, nimmst du die Leinwandtasche von deiner Schulter, die Tasche mit dem Manuskript, an dem du gerade arbeitest, die Tasche mit dem Artikel in
Le Monde
, den du unbedingt lesen willst, und wirfst sie dem davonfahrenden Taxi nach. Sie landet mit lautem Knall auf dem Kofferraum – ein äußerst befriedigendes Geräusch mit der ganzen Wucht eines Ausrufezeichens in Fünfzig-Punkt-Schrift. Der Fahrer macht eine Vollbremsung, steigt aus dem Taxi, stapft mit geballten Fäusten auf dich zu, brüllt herum, du hättest sein kostbares Vehikel attackiert, und ist drauf und dran, sich auf dich zu stürzen. Auch du ballst die Fäuste und schreist zurück, wenn er noch einen Schritt weiter auf dich zukommt, brichst du ihm sämtliche Gräten im Leib und verfütterst den Rest an die Schweine. In diesem Augenblick zweifelst du nicht an deinen Worten, du weißt, du wirst dich auf ihn stürzen, nichts kann dich davon abhalten, deine Ankündigung, diesen Mann zu Brei zu hauen, in die Tat umzusetzen, und als er dir in die Augen
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