Winterjournal (German Edition)
verschwinden, das sei eine private Totenfeier, sagt er, Außenstehende seien nicht zugelassen, und als Tom murmelt, er wolle nur seinen Respekt bekunden, sagt dein Onkel, tut mir leid, gehen Sie, und Tom wendet sich ab und geht. Das Gespräch hat höchstens fünfzehn oder zwanzig Sekunden gedauert, und du hast kaum mitbekommen, was sich da vor Toms Weggang abgespielt hat. Als dir endlich klarwird, was dein Onkel getan hat, bist du entrüstet, entsetzt, dass er einen solchen Menschen so behandeln konnte, überhaupt irgendeinen Menschen, vor allem aber diesen, der nur gekommen war, weil er das für seine Pflicht hielt, und was dir noch heute zu schaffen macht, was dich noch heute mit Scham erfüllt, ist, dass du zu deinem Onkel nichts gesagt hast. Es spielt keine Rolle, dass er ein bekanntermaßen reizbarer Mensch war, ein Hitzkopf, bei dem man immer mit lautstarken Wutausbrüchen und Tobsuchtsanfällen rechnen musste, und dass er, hättest du ihn zur Rede gestellt, womöglich mitten während der Beerdigung deines Vaters auf dich losgegangen wäre. Aber wennschon? Du hättest ihn zur Rede stellen sollen, du hättest den Mut aufbringen müssen, zurückzubrüllen, wenn er dich angebrüllt hätte, und wenn nicht das, warum bist du Tom nicht wenigstens nachgelaufen und hast ihm gesagt, er könne ruhig dableiben? Du hast keine Ahnung, warum du in diesem Augenblick nicht Stellung bezogen hast, und der Schrecken über den plötzlichen Tod deines Vaters kann dir nicht als Ausflucht dienen. Du hättest handeln müssen, und du hast es nicht getan. Dein Leben lang warst du für Leute eingetreten, die man herumgeschubst hatte, eine Leitschnur, an die du dich immer gehalten hattest, aber an diesem einen Tag hast du den Mund gehalten und nichts getan. Wenn du heute darauf zurückblickst, begreifst du, dass dieses Versagen der Grund ist, warum du aufgehört hast, dich für einen Helden zu halten: weil es dafür keine Entschuldigung gibt.
Neun Jahre zuvor ( 1970 ), während deiner Zeit auf der S. S.
Esso Florence
, hast du einmal einem Schiffskameraden, der dich mit antisemitischen Schmähungen ärgerte, Prügel oder gar noch Schlimmeres angedroht. Du hast ihn am Hemd gepackt, ihn an die Wand gedrückt, ihm deine Faust unter die Nase gehalten und gesagt, wenn er nicht aufhöre, dich zu beleidigen, könne er was erleben. Martínez lenkte sofort ein, entschuldigte sich, und bald wurdet ihr gute Freunde. (Erinnerung an Madame Rubinstein.) Neun Jahre später, soll heißen 1988 , neun Jahre nach der Beerdigung deines Vaters, hast du wieder beinahe jemanden verprügelt, es war das letzte Mal, dass du drauf und dran warst, eine Schlägerei wie sonst nur in deiner Kindheit anzuzetteln. Es war in Paris, und du hast das Datum noch gut in Erinnerung: der 1 . September, ein besonderer Tag im Kalender der Franzosen,
la rentrée
, das offizielle Ende der Sommerferien, ein enorm chaotischer Tag, an dem sehr viele Menschen unterwegs sind. Bis dahin hattest du mit Frau und Kindern sechs Wochen in Südfrankreich verbracht, im Haus deines französischen Verlegers, etwa fünfzehn Kilometer östlich von Arles. Es war eine erholsame Zeit für euch alle gewesen, anderthalb Monate ruhiger Arbeit, langer Spaziergänge und weiter Streifzüge durch die weißen Hügel der Alpilles, Mahlzeiten unter der Platane im Garten, wahrscheinlich der schönste Sommer deines Lebens, in dem du zu deiner Freude auch noch miterleben konntest, wie deine einjährige Tochter die ersten wackligen Schritte machte, ohne sich an der Hand ihrer Eltern festzuhalten. Offenbar warst du nicht ganz bei Trost, als du den Termin für die Rückkehr nach Paris auf den 1 . September legtest, oder aber du ahntest schlichtweg nicht, was dich bei der Ankunft erwartete. Deinen elfjährigen Sohn hast du bereits in ein Flugzeug nach New York gesetzt (ein Direktflug von Nizza aus), daher fahrt ihr an diesem Tag nur zu dritt mit dem Zug nach Norden, du und deine Frau und eure kleine Tochter und dazu Gepäck für einen Sommer und eine halbe Tonne Babysachen. Du freust dich auf Paris, denn dein Verleger hat dir erzählt, die Nachmittagsausgabe von
Le Monde
werde einen ausführlichen Artikel über deine Arbeit bringen, und du willst dir gleich im Bahnhof ein Exemplar der Zeitung kaufen. (Du hast es inzwischen längst aufgegeben, Artikel über dich zu lesen, Rezensionen deiner Bücher zu lesen, aber damals war es anders, du hattest noch nicht gelernt, dass es der geistigen Gesundheit eines
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