Winterjournal (German Edition)

sieht und erkennt, wie ernst es dir ist, macht er kehrt, steigt in sein Taxi und fährt davon. Du gehst auf die Straße, um deine Tasche zu holen, und während du dich danach bückst, siehst du die junge Afrikanerin mit ihrem Baby und den drei schweren Bündeln weiter den Bürgersteig hinuntergehen, inzwischen vielleicht schon zehn oder zwanzig Meter von dir entfernt, und während du beobachtest, wie sie gemessenen, gleichmäßigen Schritts entschwindet, empfindest du nichts als Bewunderung für die Ruhe, die ihr Körper ausstrahlt, und begreifst, dass abgesehen vom sanften Schwung ihrer Hüften sich nichts an ihr bewegt außer ihren Beinen.
     
    Ein einziger Knochen gebrochen. Wenn du bedenkst, an wie viel tausend Spielen du als Junge teilgenommen hast, staunst du selbst, dass dir das nicht öfter, zumindest ein paarmal mehr passiert ist. Verrenkte Knöchel, zerschrammte Schenkel, verstauchte Handgelenke, wacklige Knie, aufgeschürfte Ellenbogen, Schienbeinentzündungen, Beulen am Kopf, aber nur ein einziger gebrochener Knochen, die linke Schulter beim Football, mit vierzehn, was es dir seit fünfzig Jahren unmöglich macht, den Arm vollständig hochzuheben, sonst aber keine nennenswerten Folgen hatte, und wahrscheinlich erwähnst du die Geschichte jetzt auch nur wegen der Rolle, die deine Mutter darin gespielt hat, denn letztlich ist es ihre Geschichte und nicht die Geschichte, wie du als Quarterback deiner Neunte-Klasse-Mannschaft einem Fumble im Backfield nachgesprungen bist und dir ganz allein, ohne jede gegnerische Einwirkung, die linke Schulter gebrochen hast, weil du in deinem Eifer, den Ball noch zu fangen, zu weit gesprungen und an der falschen Stelle, auf der falschen Stelle, gelandet bist und dir beim Aufprall auf dem harten Boden die Schulter gebrochen hast. Es war ein eisiger Nachmittag Ende November, ein Spiel ohne Schiedsrichter, ohne erwachsene Aufseher, und nachdem du dir weh getan hattest, standest du an der Seitenlinie und sahst dem Spiel nur noch zu, enttäuscht, dass du nicht mehr mitspielen konntest, ohne zu ahnen, dass du dir etwas gebrochen hattest, aber schon mit dem Gefühl, dass die Verletzung schlimm sein musste, weil jede Bewegung des Arms dir heftige Schmerzen bereitete. Anschließend bist du mit einem deiner Freunde nach Hause getrampt, ihr beide noch in euren Footballsachen, und was für Schwierigkeiten du hattest, dich aus dem Trikot mit den Schulterschützern zu befreien, solche Schwierigkeiten, dass du es nur mit Hilfe deines Freundes zuwege brachtest. Es war Samstag, das Haus leer. Deine Schwester war mit Freundinnen unterwegs, dein Vater arbeitete, und auch deine Mutter arbeitete, denn Samstag war der Tag, an dem besonders viele Kaufinteressenten sich Häuser zeigen ließen. Etwa zwei Minuten nachdem dein Freund dir geholfen hatte, die Schulterschützer abzunehmen, klingelte das Telefon, und weil du dich vor Schmerzen kaum noch bewegen konntest, ging dein Freund ran. Es war deine Mutter, und das Erste, was sie zu deinem Freund sagte, war: «Ist mit Paul alles in Ordnung?» – «Na ja», antwortete er, «ehrlich gesagt nicht. Ich glaube, er hat sich am Arm verletzt.» Und dann sagte deine Mutter: «Ich hab’s gewusst. Deshalb habe ich angerufen – weil ich mir Sorgen gemacht habe.» Sie sagte zu deinem Freund, sie komme sofort nach Hause, und legte auf. Später, als sie dich zum Röntgen zum Arzt fuhr, erzählte sie dir, am Nachmittag habe sie plötzlich ein ganz seltsames Gefühl gehabt, das Gefühl, dass dir etwas passiert sei, und als du sie fragtest, wann genau sie dieses Gefühl gehabt habe, stellte sich heraus, dass sie genau in dem Moment angefangen hatte, sich Sorgen zu machen, als du auf den Boden geprallt warst und dir die Schulter gebrochen hattest.
     
    Mit den
guten alten Zeiten
kannst du nichts anfangen. Wann immer du dich in nostalgischer Stimmung ertappst und den Verlust von Dingen beklagst, die das Leben damals besser erscheinen lassen als das Leben heute, sagst du dir, hör auf damit und denk mal nach, betrachte das Damals mit derselben Strenge, die du auf das Heute verwendest, und bald gelangst du zu dem Schluss, dass es zwischen beiden kaum einen Unterschied gibt, dass Heute und Damals im Wesentlichen identisch sind. Natürlich hast du zahlreiche Gründe, dich über die Übel und Dummheiten des aktuellen Geschehens in Amerika zu beklagen, kein Tag vergeht, an dem du nicht deine Tiraden über den zunehmenden Einfluss der Rechten vom Stapel lässt, über die