Winterjournal (German Edition)
Jahr für Jahr eine Saison imaginärer Spiele nach der anderen. Wie vollkommen angemessen war es, erkennst du jetzt, dass ausgerechnet dieser Freund dich eines Abends im Winter 1957 / 58 anrief, nicht lange nachdem die Dodgers ihren Umzug von Brooklyn nach Los Angeles angekündigt hatten, um dir zu erzählen, dass Roy Campanella, der All-Star-Fänger, einen Autounfall gehabt habe, einen so schrecklichen Autounfall, dass er, selbst wenn er durchkäme, bis ans Ende seines Lebens gelähmt bleiben würde. Dein Freund weinte ins Telefon.
23 . Februar: Zum dreißigsten Mal jährt sich der Tag, an dem du deine Frau kennengelernt hast; zum dreißigsten Mal jährt sich die erste Nacht, die ihr miteinander verbracht habt. Ihr zwei verlasst am späten Nachmittag das Haus, fahrt über die Brooklyn Bridge und geht in ein Hotel in Lower Manhattan. Ein bisschen übertrieben, mag sein, aber ihr wollt diese vierundzwanzig Stunden nicht einfach so vorbeirauschen lassen, ohne den Anlass zu feiern, und da ihr nie auf die Idee gekommen seid, eine Party zu geben (warum sollte ein Paar seine Langlebigkeit vor den Augen anderer Leute zelebrieren?), esst ihr beide allein im Restaurant des Hotels zu Abend. Anschließend fahrt ihr mit dem Aufzug in den neunten Stock und geht in euer Zimmer, wo ihr gemeinsam eine Flasche Champagner leert, das Radio anzumachen vergesst, den Fernseher anzumachen vergesst und keinen der viertausend Filme anseht, die euch zur Verfügung stehen, und während ihr den Champagner trinkt, redet ihr miteinander, stundenlang tut ihr nichts anderes, als miteinander zu reden, nicht über die Vergangenheit und die dreißig Jahre, die hinter euch liegen, sondern über die Gegenwart, über eure Tochter und über die Mutter deiner Frau, über die Arbeit, die euch zurzeit jeweils beschäftigt, über alle möglichen zugleich belangreichen und alltäglichen Dinge, und in dieser Hinsicht unterscheidet sich der Abend in nichts von jedem anderen Abend eurer Ehe, denn ihr zwei habt immer miteinander geredet, genau das ist es, was euch gewissermaßen ausmacht, all diese Jahre seit dem Tag eures Kennenlernens habt ihr mit dieser langen, ununterbrochenen Unterhaltung verbracht. Draußen herrscht wieder eine kalte Winternacht, wieder klatscht eisiger Regen an die Fenster, du aber liegst jetzt mit deiner Frau im Bett, und das Hotelbett ist warm, die Laken sind weich und angenehm und die Kopfkissen geradezu gigantisch.
Zahllose Amouren und Techtelmechtel, aber nur zwei große Lieben in deinen frühen Jahren, die Katastrophen deiner Pubertät und deiner Jugend, beide Male ein Desaster, gefolgt von deiner ersten Ehe, die ebenfalls in einem Desaster endete. Es begann 1962 , im zehnten Schuljahr, als du dich in die schöne englische Mitschülerin verknallt hast: Offenbar hattest du ein besonderes Talent, immer der Falschen nachzulaufen, etwas zu wollen, das du nicht haben konntest, dein Herz an Mädchen zu verlieren, die dich nicht wiederlieben konnten oder wollten. Gelegentliches Interesse an deinen Gedanken, manchmal auch an deinem Körper, nie aber das geringste an deinem Herzen. Halb verrückte Mädchen, beide hinreißend und selbstzerstörerisch und äußerst reizvoll für dich, aber gewusst hast du so gut wie nichts von ihnen. Du hast sie dir erfunden. Sie dienten dir als imaginäre Verkörperungen deiner Sehnsüchte, von ihren eigenen Problemen und ihrer Vorgeschichte wolltest du nichts wissen, du hast nicht begriffen, wer sie außerhalb deiner Phantasie waren, und doch, je mehr sie dir entglitten, desto leidenschaftlicher sehntest du dich nach ihnen. Die auf der Highschool ging in einen heimlichen Hungerstreik und landete im Krankenhaus. Das Wort
Anorexie
gehörte damals noch nicht zu deinem Wortschatz, also dachtest du an Krebs oder Leukämie (woran ihre Mutter einige Jahre zuvor gestorben war), denn wie sonst konntest du dir das Dahinschwinden ihres einst so entzückenden Körpers erklären, die entsetzliche Auszehrung, und du weißt noch, wie du sie im Krankenhaus besuchen wolltest und abgewiesen wurdest, jeden Nachmittag abgewiesen wurdest, völlig von Sinnen vor Liebe, vor Angst, doch am Ende war sie nicht für Jungen gemacht, und auch wenn sie, als du Anfang zwanzig warst (New York 1968 , Paris 1972 ), noch zweimal in dein Leben zurückkehrte, war sie im Grunde genommen ein Mädchen, das für Mädchen gemacht war, und deshalb hattest du nie eine Chance bei ihr. Die zweite Geschichte begann im Winter deines ersten
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