Winterkill
und war ihm doch unterlegen, weil er nach immer neuen Opfern suchte, um ihr beizukommen. Wenn sie überleben wollte, durfte sie nicht nachlassen, war sie gezwungen weiterzukämpfen. »Ethan«, flüsterte sie voller Hoffnung. »Bist du stark genug, Ethan?«
Sie hatte noch seine Nummer. Selbst das Wasser des Sees hatte sie nicht von ihrem Arm waschen können. Und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn endlich anrufen zu können, seine sanfte Stimme zu hören, sein Lächeln durchs Telefon zu erahnen. Er wartete auf ihren Anruf, das wusste sie, es durfte gar nicht anders sein. Sie gehörten zusammen. Nur der Wendigo stand noch zwischen ihnen, sie musste das Monster besiegen, wenn sie Ethan jemals wiedersehen wollte. Aber wie?
Unter dem gewölbten Betondach der Brücke blieb sie stehen und rieb sich den Schnee aus den Augen. Erstaunt blickte sie auf die Ansammlung von notdürftig errichteten Hütten und Zelten, die sich vor dem Brückenpfeiler aus dem Schnee erhoben. Im Schein eines flackernden Feuers saßen einige Gestalten und blickten neugierig zu ihr herüber. Drei Männer und eine Frau. Einer der Männer trank aus einer Flasche und reichte sie weiter, ohne den Blick von ihr zu nehmen. Er sagte etwas zu den anderen, das sie nicht verstand. Im Schein des Feuers erkannte sie, dass die schlohweißen Haare von einem der Männer bis über die Schultern fielen und von einem Stirnband zusammengehalten wurden, wie bei einem Indianer.
Obdachlose, dachte sie. Normalerweise keine Menschen, vor denen man sich fürchten musste, doch mitten in der Nacht und in diesem Schneesturm wirkten alle Menschen gefährlich auf sie. Wer sagte ihr, dass der Wendigo sich nicht in diesen Heimatlosen verbarg?
Doch ihr war schwindlig, sie fror erbärmlich, und das Feuer zog sie auf magische Weise an. Indem sie sich mit einer Hand am Brückenpfeiler abstützte, ging sie langsam darauf zu. Die Frau war verhärmt, ihr Alter unmöglich zu bestimmen. Sie trug einen alten Mantel ohne Knöpfe und eine farblose Wollmütze, unter der ihre zotteligen Haare hervorschauten. Zwei Männer, die Zwillinge sein mussten, so ähnlich sahen sie sich, ältere Männer mit faltigen Gesichtern und spröden Lippen, gebeugte Gestalten in schmutzigen Lumpen, wie Bettler im Mittelalter auf dem Bild, das sie in einem Museum gesehen hatte.
Der Alte mit den weißen Haaren war tatsächlich ein Indianer. Er hatte das breite Gesicht eines Anishinabe-Indianers und die stechenden Augen eines alten Mannes, der seinen Verstand noch nicht vollständig im Alkoholertränkt hatte. Seine hagere Gestalt war in eine schmutzige Wolldecke gehüllt.
Ein Hund kam Sarah entgegengesprungen. Er sah wie ein Cockerspaniel aus, war aber sicher nicht reinrassig.
»Das ist Sailor«, sagte der Indianer.
»Hey«, begrüßte sie einer der Zwillinge lallend. »Hast du ’n paar Dollar dabei? Uns geht langsam der Sprit aus.«
»Ist die aber hübsch«, sagte der andere. Seine Augen glänzten vom Alkohol. »Habt ihr schon mal so ’ne hübsche Braut gesehen? Hey, komm mal her und gib dem alten Herman einen Kuss!«
»Red kein Blech, Herman!«, lästerte die Frau neben ihm. »Dir würde nicht mal ’ne blinde achtzigjährige Oma einen Kuss geben. Schnappt sie euch und nehmt ihr die Kohle ab, das ist ’ne bessere Idee. Ich hol auch Nachschub.«
»Niemand fasst sie an!«, befahl der Indianer mit erstaunlich fester Stimme. Er trat aus dem Schatten vor seiner Hütte aus Brettern und Lumpen und breitete die Arme aus. »Sie gehört zu mir! Das gilt auch für dich, Elaine!«
Sailor unterstrich seine Worte mit einem warnenden Knurren. Breitbeinig wie ein Jagdhund, der sein Wild gestellt hatte, baute er sich vor den Zwillingen und der Frau auf. Sein aufgerichteter Schwanz ließ keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte. Elaine wich ängstlich zurück, hatte anscheinend schon schlechte Erfahrungen mit dem Hund gemacht.
»Schon gut«, erwiderte sie. »Aber wenn mich dein verdammter Köter noch mal beißt, dreh ich ihm den Hals um!« Sie warf die leere Flasche in den Schnee und ließ sich neben dem Feuer auf den Boden fallen. »Scheißindianer!«
»Setz dich«, sagte der Indianer zu Sarah. Er deutete auf eine mehrfach gefaltete Wolldecke vor seiner Behausung. »Ich bin Jonathan White Feather.«
»Ach was, den Namen hat er sich doch ausgedacht«, mischte sich einer der Zwillinge ein. »Nenn ihn Sitting Bull oder Geronimo wie alle anderen auch.«
Sarah hatte Vertrauen zu dem Indianer gefasst und
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