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Winterkill

Winterkill

Titel: Winterkill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ueberreuter
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Raben, die sie wie immer bei der Arbeit mit einer Spange zusammenhielt. Bei den Irokesen hatten die Frauen das Sagen gehabt, die Clan-Mütter, ein Gedanke, der ihr sehr gefiel.
    »Schon nach sechs«, sagte Sophie Pirker, ihre Vorgesetzte. »Wir sollten langsam Schluss machen. Heute Abend kommt ein Film mit Cary Grant auf AMC. Ich steh auf den Knaben.«
    »Cary Grant? War der nicht schwul?«
    »Und wenn«, erwiderte Sophie, »im Film legt er die Frauen reihenweise flach. Wäre ich ihm jemals begegnet …«
    »… hättest du ihn zum Hetero bekehrt, na logisch«, ergänzte Sarah grinsend.
    Sophie Pirker war Single. Obwohl sie die Männer sehr direkt anbaggerte, hatte sie kein Glück bei ihnen, was vielleicht auch daran lag, dass sie unter Übergewicht litt. Schuld daran war ihre Vorliebe für die dicken Pizzas, die man nur in Chicago bekam.
    Unter mangelndem Selbstbewusstsein litt sie deshalbnicht. Obwohl sie mit ihren rostbraunen Haaren und ihrer sommersprossigen Haut fast wie eine Irin aussah, stammten ihre Vorfahren aus Skandinavien, und sie behauptete steif und fest, einer ihrer Vorfahren sei Leif Erikson gewesen, der legendäre Wikinger und Entdecker von Amerika.
    »Nun sieh sich das einer an«, rief Sophie erstaunt. Sie hatte in den Bildarchiven des Museums nach Abbildungen für die Ausstellung gesucht und war auf die Zeichnung eines Indianers gestoßen. »Ich wusste gar nicht, dass wir so ein schönes Bild vom Wendigo haben. Das müssen wir neben die Maske hängen.«
    Sarah löste sich vom Anblick der erleuchteten Wolkenkratzer und trat neben sie. Das Bild, eine farbige Zeichnung, nahm den gesamten Bildschirm ein. Der Anblick des legendären Winterriesen verstörte sie, weil sie beim Blick auf die Wolkenkratzer gerade an ihn gedacht hatte. Ein ausgezehrtes Monstrum, das bedrohlich aus einem verschneiten Fichtenwald stapfte, hinter sich den vollen Mond, die Arme ausgebreitet, um seine Opfer sofort packen und verschlingen zu können, die aschgraue Haut lose über den Knochen wie bei einem ausgehungerten Tier. Das einzig Lebendige an ihm waren die tief in den Höhlen liegenden glühenden Augen und das pochende Herz, das inmitten einer Kapsel aus durchsichtigem Eis zu schlagen schien. Auf dem Bild stand eine Warnung in der Anishinabe-Sprache: »Hüte dich vor dem Wendigo! Sein Hunger nach Menschenfleisch ist unermesslich, und wessen Namen er ruft, der ist des Todes.«
    »Ich fasse es nicht«, wunderte sich Sophie, nachdem Sarah die Worte übersetzt hatte. »Seit wann sprichst du Ojibway? Ich dachte, du wärst Irokesin.«
    »Mein Schwager ist Anishinabe«, gebrauchte Sarah ihre Standardlüge. »Außerdem hab ich meine Examensarbeitüber die Anishinabe geschrieben. Und den Wendigo«, fügte sie lächelnd hinzu.
    »Dann weiß ich ja, wer den Text für unser Programmheft schreibt«, sagte Sophie, die beinahe mehr über die Anishinabe wusste als Sarah selbst. Sie hatte ihre Doktorarbeit über die Indianervölker der Großen Seen geschrieben und galt in Fachkreisen als Koryphäe. Außenstehende, die Sophie nicht kannten, hielten sie auf den ersten Blick für eine Sekretärin oder Hilfskraft. »Soll ich mich in ein sündhaft teures Kostüm zwängen, nur damit ich einen professionelleren Eindruck mache?«, sagte sie, wenn sie jemand vorsichtig darauf ansprach.
    Sarah starrte unentwegt auf das Bild. Ihr Blick war ernst, beinahe besorgt. »Angeblich soll der Wendigo auch heute noch Menschen in den Tod treiben«, erzählte sie. »Mein Schwager hat mir von zwei Fällen erzählt. Eine Frau in den Bergen westlich von Duluth, die zerfetzt in einer Schneewehe gefunden wurde, und ein alter Mann im Reservat, von dem nur die Knochen übrig blieben. Das Gemeine ist, dass er nicht wie auf dem Bild aus den Wäldern kommt. Er verstellt sich. Mal bleibt er unsichtbar, mal schlüpft er in den Körper eines Menschen, um möglichst lange unerkannt zu bleiben, wenn er ein Opfer in den Tod treiben will. Stell dir vor, du kommst zu deinem Mann nach Hause, und er sieht dich plötzlich mit rot glühenden Augen an und geht auf dich los.«
    »Jetzt weißt du, warum ich mir keinen Ehemann zugelegt habe«, erwiderte Sophie. Sie zog die Augenbrauen hoch. »Hey, du glaubst doch nicht wirklich an diesen Blödsinn? Der Wendigo ist eine Legende, so wie Big Foot oder der Große Böse Wolf. Schon vergessen?«
    Sarah ging an ihren eigenen Computer und schaltete ihn aus. »Du weißt doch, es gibt mehr Dinge zwischenHimmel und Erde, als man sich vorstellen

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