Winterkill
fleißige Studentin, nahm Sarah an, manchmal machte sie sogar den Eindruck, am liebsten alles hinwerfen und einen Job annehmen zu wollen. Angeblich war ihre Mutter schwer krank.
An ihre eigenen Eltern dachte Sarah jeden Tag. Sie gehörten zu dem anderen Leben, das sie vor zwei Jahren hinter sich gelassen hatte. Die Entscheidung, niemals mehr ins Reservat am Lake Superior zurückzukehren und ihre Eltern und liebe Freunde wie Father Paul zu verlassen, war ihr nicht leichtgefallen, aber eine andere Möglichkeit hatte es nicht gegeben. Bei ihren Eltern würde man sie zuerst suchen.
Bis zu ihrem zwangsweisen Abschied war sie niemals weiter als bis in die Twin Cities, Minneapolis und St. Paul, gekommen, hatte immer davon geträumt, im Museum ihres Stammes arbeiten zu können. Chicago war eine vollkommen neue Welt für sie gewesen, war jetzt noch ein Labyrinth voller Schluchten und Trails, die sie nur zum Teil erkundet hatte. Wider Erwarten mochte sie die Stadt. Chicago hatte nichts Künstliches an sich, war ehrlich und direkt wie die Wildnis, die sich außerhalb ihres Reservats in Grand Portage erstreckte. Sich in einer solchen Umgebung zu behaupten, erforderte Entschlusskraft und Mut. Sie hatte die Herausforderung angenommen, auch weil man ihr eine neue Vergangenheit bei den Irokesen in New York State verschafft und bei der Jobsuche unter die Arme gegriffen hatte. Ohne die Hilfe hätte sie sich niemals auf den Deal eingelassen.
In der Innenstadt stiegen weitere Fahrgäste zu. Der Bus fuhr über die State Street nach Norden, die ehemalige Shoppingmeile im Loop. So nannte man den Stadtkern von Chicago, weil er von einem Ring aus Hochbahnschienen eingerahmt war. Jedes Mal, wenn die Türen mit einem kräftigen Zischen aufgingen, wehten kalte Luft und Schneeflocken in den Bus, und die eingestiegenen Fahrgäste brachten den säuerlichen Geruch von feuchten Anoraks und Mänteln herein. Obwohl die Rushhour vorbei war, herrschte viel Verkehr. Im Loop war immer etwas los.
Am Wacker Drive bog der Bus nach rechts und fuhr über die Brücke auf den Teil der Michigan Avenue, der »Magnificent Mile« genannt wurde. Links von ihr ragte der neue Trump Tower in das Schneetreiben empor, daneben erhoben sich der Wrigley Tower und andere betagte Wolkenkratzer. Sarah verdiente zu wenig, um in den sündhaft teuren Läden der Magnificent Mile shoppen zukönnen, sah sich aber gern dort um und gönnte sich auch mal einen Cappuccino in einem der Cafés.
An der Grand Avenue stieg sie aus. Schon als sich die Tür hinter ihr schloss und ihr der Wind forsch ins Gesicht blies, hatte sie das seltsame Gefühl, feindliches Land zu betreten. Vom Glanz der Magnificent Mile war selbst im Schein der erleuchteten Schaufenster wenig zu spüren. Auf der Straße und den Gehsteigen hatten sich Schnee und Dreck vermischt, und die Hochhäuser wirkten dunkel und bedrohlich und schienen immer näher an die Straße heranzurücken. Mit flackerndem Blaulicht und heulenden Sirenen schossen zwei Streifenwagen aus der Grand Avenue und fegten über die Michigan Avenue nach Norden. Zwei oder drei Blocks weiter hielten sie.
Noch bevor sie die Ampel erreicht hatte, hörte Sarah die Stimme. Zunächst war sie nur ein heiseres Krächzen, ein kaum hörbares Geräusch, wie das Räuspern eines vorbeieilenden Passanten.
Sie ging ein paar Schritte, hielt den Kopf gegen den Wind und das Schneetreiben gesenkt, als die Stimme sich erneut meldete. Aus dem Krächzen war ein heiseres Flüstern geworden, das tief in ihre Ohren drang und ihr qualvolle Schmerzen bereitete. »Sarah!«, rief die Stimme. »Komm zu mir, Sarah! Du weißt, wer ich bin. Du weißt, dass du sterben musst, wenn du deinen Namen hörst. Du kennst den Wendigo.«
Sie blieb so abrupt stehen, dass ein Ehepaar in sie hineinlief. Die Frau ließ ihre Einkaufstasche fallen und schimpfte: »Passen Sie doch auf !« Der Mann hob seiner Frau die Tasche auf und blickte Sarah mit einer Mischung aus Ärger und Verwunderung an. »Ist Ihnen nicht gut, Miss? Sie sehen so blass aus.« Er legte eine Hand auf ihre Schulter. »Soll ich einen Arzt rufen?«
Sarah löste sich aus ihrer Erstarrung. »Nein, nein … Es geht schon wieder. Tut mir leid, das wollte ich nicht.« Sie ging weiter, ohne sich um die erstaunten Blicke des Ehepaars zu kümmern, und lehnte sich gegen ein Schaufenster. Langsam atmete sie wieder ruhiger. »Daran ist nur dieses Bild schuld«, sagte sie sich, »wahrscheinlich träume ich heute auch vom Wendigo.«
Sie
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