Winterkill
keine Verwandten mehr.«
»Und ich dachte immer, Indianer haben doppelt so viele Verwandte wie wir«, erwiderte der Restaurantbesitzer.
»Ich bin ihre Verwandte«, erklärte Wendy und stand auf. »Eigentlich sind wir doch alle miteinander verwandt, nicht wahr? Bis morgen Abend, Jonas.«
Wendy half seit drei Jahren in der Altenhilfe aus, meist in Grand Forks, und seitdem Mary bei einem speziellen Arzt in Fargo in Behandlung war, auch dort. Sie half gern bedürftigen Menschen, so war sie von ihren Eltern in Grand Portage erzogen worden. Die Arbeit bot einen Ausgleich zu dem anstrengenden Studium und ihrem Nebenjob als Bedienung. Sie studierte Marketing an der University of North Dakota und wollte nach ihrer Ausbildung in einer Werbeagentur arbeiten.
Nachdem sie ihre Laufschuhe gegen winterfeste Stiefel getauscht und den Anorak angezogen hatte, verabschiedete sie sich und ging zu ihrem Wagen, einem altersschwachen Ford. Unterwegs stülpte sie ihre Wollmütze über und schlang den roten Schal um ihren Hals. Sie mochte fröhliche Farben. Weil sie wusste, wie lange die Heizung brauchte, um auf Touren zu kommen, behielt sie die Winterjacke auch hinter dem Steuer an. Sie lenkte den Wagen vom Parkplatz und fuhr auf die Interstate, die hinter dem Lokal begann.
Bis nach Fargo brauchte man ungefähr anderthalb Stunden. Eine langweilige Fahrt über extrem flaches Land, das sich bis zum Horizont hinzog und nur von wenigen Siedlungen und Farmen unterbrochen war. Jedes Anwesen war durch Baumgruppen, die schon die ersten Siedler angepflanzt hatten, gegen den meist böigen Wind geschützt.
Wendy fuhr gern nach Fargo, auch an einem eisigkalten Abend wie diesem. Wie ein endloses Bettlaken lag der Schnee über der Prärie, nur von der dunklen Doppelspur der Interstate zerschnitten, die sich erst in weiter Ferne in der Dunkelheit verlor. Vereinzelte Schneeflocken wirbelten durch die Luft, kein Vergleich zu dem heftigen Schneesturm, der Chicago und das Land um die Großen Seen heimsuchte. Auf CNN, das Jonas ständig im Restaurant laufen hatte, war ein ausführlicher Bericht über den Blizzard gekommen.
Das Radio ließ sie selten während der Fahrt nach Fargo laufen, höchstens mal mit leiser Musik. Sie mochte die Ruhe, empfand es schon als störend, wenn ein Truck an ihr vorbeifuhr. Die Einsamkeit des beinahe menschenleeren Landes umgab sie wie ein schützender Mantel und ließ sie jedes Mal an die alten Zeiten denken, als stolze Krieger über diese Ebenen geritten waren und grenzenlose Freiheit geatmet hatten. Zwischen Grand Forks und Fargo hatte sich das Land kaum verändert, hier präsentierte sich die Prärie noch so wie vor mehr als zweihundert Jahren.
Sioux Country, dachte sie. Die ehemaligen Erzfeinde ihres Volkes. Ihre Vorfahren hatten die Sioux aus den Jagdgründen im heutigen Minnesota vertrieben. Heute war von der Feindschaft zwischen Sioux und Ojibway nichts mehr zu spüren. Die Sioux-Stundenten an der Uni hatten sie mit offenen Armen empfangen, auch die Frauen, und mit einem der jungen Männer hatte sie sich letzte Woche zu einem Date verabredet. Sie konnte sich sogar vorstellen, nach ihrem Studium in North Dakota zu bleiben und für die Werbeagentur zu arbeiten, zu der sie über einen Professor Kontakt bekommen hatte.
Wenn sie die nächste Arbeit einigermaßen erfolgreich abschloss, fehlten ihr nur noch zwei Semester. »Indianische Klischees in der Werbung« hieß ihr Thema, und obwohlsie damit ein heißes Eisen anfasste, würde sie den Namen des Eishockeyteams der Uni in den Mittelpunkt stellen. »The Fighting Sioux« stand auf dem Logo, eine Diskriminierung, wie sie meinte, ähnlich wie das abwertende »Rothaut« in der Boulevard-Presse, wenn es um Indianer ging. »Sioux wieder auf dem Kriegspfad« hatte erst vor zwei Tagen in der USA Today gestanden, in einem Artikel über den Prozess, den die Sioux in South Dakota gegen einen Mineralölkonzern führten.
Wendy blickte erschrocken in den Rückspiegel. Ein heiseres Flüstern drang an ihre Ohren, als ob jemand auf der Rückbank sitzen und leise ihren Namen rufen würde. Unsinn, rief sie sich zur Ordnung, jetzt hörst du schon Gespenster. Vielleicht mutete sie sich doch zu viel zu. Das Studium, der Nebenjob in Jonas’ Restaurant, um die Uni zu finanzieren, und die freiwillige Arbeit für die Altenpflege. Alles ein bisschen viel, selbst wenn man so jung war wie sie.
Natürlich hätte sie im Reservat in Grand Portage bleiben können. Dort gab es genug Leute, die
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