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Winterkill

Winterkill

Titel: Winterkill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ueberreuter
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wie die versteinerten Bäume eines gigantischen Waldes in den dunklen Himmel.
    Der Wendigo liebte solches Wetter, zumindest berichteten das die Legenden und Märchen ihres Volkes. Nur in der eisigen Kälte des hohen Nordens fühlte er sich wohl. Sobald es wärmer wurde, litt er Höllenqualen, und im Feuer starb er einen grausamen Tod. Wenn er die Wälder an der kanadischen Grenze verlassen hatte, um sein Unwesen in einer Stadt zu treiben, musste es Chicago sein. In der windigen Stadt am Ufer des Lake Michigan war das Klimaunwirtlich genug, um ihm zu gefallen. War er tatsächlich hinter ihr her? Hatte er sich mit den Killern verbündet, um ihr ein möglichst grausames Ende zu bereiten? Warum verfolgte er ausgerechnet sie?
    Sie fuhren über die Division nach Osten und hielten an einer roten Ampel. Sie blickte Ethan lächelnd an, suchte in seinen blauen Augen nach Verständnis für ihr scheinbar leichtsinniges Vorgehen und verlor sich in der Vorstellung, dass sie ihn vielleicht in eine andere Stadt mitnehmen konnte, falls man ihr eine neue Identität verschaffte. Wenn sie vorher heirateten, blieb dem FBI gar nichts anderes übrig. Ein Gedanke, der ihr gar nicht so abwegig erschien, obwohl sie ihn erst ein paar Stunden kannte. Zur braven Hausfrau, die den ganzen Tag am Herd stand, taugte sie zwar nicht, aber darauf würde ein Mann wie Ethan auch nicht bestehen.
    Sie bogen gerade in die Wells Street, als Ethan das Steuer verriss. Sein Gesicht verzerrte sich und sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Mit letzter Kraft fuhr er an den Straßenrand und hielt vor einem Hydranten. »Geh!«, rief er heiser. »Verschwinde! Schnell!«
    Sie starrte ihn fassungslos an, beobachtete mit wachsender Panik, wie er sich mit aller Macht gegen den Anfall stemmte. Seine Hände umklammerten das Lenkrad wie einen Rettungsring, drückten so fest zu, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Jeder Muskel war angespannt, seine Lippen bebten, aus seinen Mundwinkeln tropfte Speichel.
    »Ethan! Um Gottes willen!«, rief sie.
    »Geh … bitte geh!«
    Eine dichte Schneewolke hüllte sie ein, verdunkelte die Fenster, als hätte man eine Decke über den Wagen geworfen. Wie von einer Riesenfaust gepackt begann der Wagen zu ächzen und zu zittern. Eisige Finger legten sich auf dieFenster und bedeckten sie mit einer klirrenden Eisschicht, die sich wie eine lebende Masse über den Wagen verteilte und das Metall zum Knacken brachte. Die Fenster schienen jeden Augenblick unter dem Druck zerspringen zu wollen. Bittere Kälte drang in den Wagen und drohte sie zu ersticken.
    »Hau ab, Sarah! Hau endlich ab!«
    Sie drückte die Beifahrertür nach außen, musste sich mit ihrer ganzen Kraft dagegen stemmen, um sie zu öffnen, und stolperte auf den Gehsteig. Schon nach wenigen Schritten knickte sie mit ihrem verstauchten Knöchel um und stürzte zu Boden. Hilflos blickte sie dem davonbrausenden Taxi nach. »Ethan!«, rief sie unter Tränen. »Ethan!«

6
    Father Paul kletterte aus seinem Bronco und sah sich einem Gespenst gegenüber. Wie ein geheimnisvolles Wesen aus den Legenden der Anishinabe stand Niskigwun vor ihm, von wirbelnden Flocken umtost, eine fleckige Decke über seinem Anorak.
    »Ich hätte dich beinahe übersehen«, sagte Father Paul. »Was tust du hier?«
    »Dasselbe könnte ich dich fragen, Schwarzkittel«, erwiderte Niskigwun. Als Anrede benutzte er das abwertende Wort, das seine Vorfahren den Jesuiten gegeben hatten. »Bist du auf der Suche nach verlorenen Seelen?« Seine Stimme war in dem böigen Wind nur schwer zu verstehen. »Dies ist kein Wetter für weiße Männer.«
    Father Paul deutete auf den Pick-up des Indianers, der wohl ebenfalls ins Schleudern geraten war und sich quergestellt hatte. »Und für Anishinabe. Dein Wintergeist kann uns wohl beide nicht leiden. Ist dir das Benzin ausgegangen, Niskigwun? Soll ich dich abschleppen?«
    Der Indianer bemerkte den leichten Spott und schüttelte unwillig den Kopf. »Ich bin nicht so dumm, wie die Weißen denken. Wenn wir alle Weißen aus diesem Land vertrieben haben, brauchen wir weder Pick-ups noch Benzin. Bevor die Weißen kamen, hatten unsere Vorfahren nicht mal Pferde und lebten besser als wir. Sie hatten genug zu essen.«
    Father Paul wurde ernst. »Du kannst die Zeit nicht zurückdrehen, Niskigwun. Wie oft habe ich dir das schon gesagt. Du weißt, dass ich nicht gutheiße, was die Weißen deinem Volk angetan haben, aber es hat immer Völker gegeben, die andere Völker unterjochten, und

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