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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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polierten Glas einer Wäscheschranktür, steckte eine Haarnadel neu in die dicken, widerspenstigen Strähnen, glättete die Augenbrauen mit den Fingern. Sie hätte sich in die Wangen kneifen können, um ein wenig Farbe ins Gesicht zu bekommen, vielleicht auch vorsichtig auf die Lippen beißen. Aber sie wusste zu genau, dass ihr breiter Mund, ihre knochigen Züge nie an Rosenknospen erinnern würden, und wenn sie sich die Lippen blutig biss. Und wen wollte sie auch damit betören? Sie würde höchstens Erna, das Stubenmädchen, zum Kichern bringen.
    Ach nein, dachte sie, während sie die Treppe ins Erdgeschoss hinunterstieg, Erna war ja nicht mehr da. Sie sah sie noch herumwirtschaften, das Häubchen wie einen Helm auf den Kopf gerammt, immer einen Staubwedel in der Hand. Serviert hatte sie erstklassig, kein einziger Teller war je zu Bruch gegangen. In den zwei Wochen, seit sie weinend davongefahren war, waren Lieschens grobem Zupacken schon drei Tassen zum Opfer gefallen und ein Milchkännchen aus dem Barock. Die immer sanfte Frau von Rapp hatte sich sogar zu einer spitzen Bemerkung hinreißen lassen. Weder Tassen noch Kännchen waren bisher ersetzt worden.
    Und eine Mamsell, eine richtige Wirtschafterin, hatten sie schon seit Monaten nicht mehr.
    Geschirr klirrte auch jetzt aus dem Frühstückszimmer gleich hinter der Halle, aber sehr dezent. Sophie strich sich noch einmal über die Haare, bevor sie an die halb offene Tür klopfte.
    „Bitte.“
    Sie saßen an ihren üblichen Plätzen, Herr von Rapp an der Stirnseite, die gnädige Frau rechts daneben. Die Teller waren leer bis auf Krümel bei ihm und ein angebissenes Stückchen Frühstückskuchen bei ihr. Lieschen war wieder einmal spät dran mit dem Abräumen … Herr von Rapp hörte auf, ungeduldig das Besteck herumzuschieben, und sah erwartungsvoll auf. Sophie knickste.
    „Verzeihen Sie, aber ich fürchte, das kleine Fräulein kann heute Morgen nicht herunterkommen. Es ist ihr nicht recht wohl.“
    „So?“ Er runzelte die Stirn. „Sagen Sie bloß, sie hat sich bei dem kleinen Ausflug gestern den Fuß vertreten. Ich habe gar nichts bemerkt?“
    Ein junges Mädchen, dachte Sophie, ist nicht dazu geschaffen, in dünnen Stiefeln durch den Tiefschnee zu stapfen … Sie machte eine unbewegte Miene, zählte bis drei und antwortete:
    „Nein, gnädiger Herr, sie hat sich wohl erkältet. Sie hat Halsweh und ist vielleicht ein wenig fiebrig.“
    „Sollen wir nach dem Arzt schicken?“ Blanka von Rapp wandte ihr das Gesicht zu. Selbst im fahlen Morgenlicht, vermischt mit dem unsteten Flackern der Gaslampen, schimmerte ihre weiße Haut makellos, wie bei einer Porzellanpuppe. Ihre hellen Augen waren besorgt geweitet. Sophie kannte diesen Ausdruck gut, diese sanfte, unausgesprochene Bitte, es möge doch alles in Ordnung sein und niemand irgendeinen Kummer leiden. Wie immer rührte er sie und machte, dass sie rasch den Kopf schüttelte.
    „Aber nein, gnädige Frau, so schlimm ist es nicht. Ein bisschen Bettruhe – ein leichtes Mittagessen – und am Nachmittag lese ich vielleicht etwas Französisch mit ihr. Morgen wird sie wieder herumspringen.“
    „Überanstrengen Sie sie nur nicht, Fräulein Sophie. Sie soll heute im Bett bleiben. Ich komme nachher, um nach ihr zu sehen. Meinen Sie, dass Sie bis dahin zurechtkommen?“
    Sophie lächelte. „Natürlich“, sagte sie, und das dankbare Nicken ihrer Herrin – so grazil der Kopf auf dem schlanken Hals, eine Lilie auf ihrem Stängel – tat ihr wohl. Sie selbst war vielleicht nicht sehr ansehnlich; aber sie war tüchtig. Das konnte ihr niemand nehmen.
    Herr von Rapp lächelte seiner Frau zu.
    „Tja“, sagte er betont munter, „da kann man nichts machen. Das Kind kränklich, die Reisekutsche hinüber von dem Malheur gestern, und dann noch dieses Riesenbiest, für das wir wahrscheinlich anbauen müssen, um genug Platz zum Stellen zu haben. Ihr Erbstück, meine ich, meine Liebe. Vielleicht sollten wir es gleich wieder verkaufen? Es ist ja nur ein alter grauer Quecksilberspiegel. Ich schenke Ihnen einen schönen, modernen, mit echtem Silbernitrat. Der würde doch auch viel besser zu Ihnen passen!“
    Er lachte, aber es klang gezwungen. Sophie dachte an das kurze Gespräch mit Anton im Park. Sie verstand genug, auch wenn Johann von Rapp den Mund so schnell wieder zuklappte, als habe er schon zu viel gesagt. Das zerschlagene Geschirr würde auch in diesem Monat nicht ersetzt werden. Und Lieschen musste weiter sehen, wie sie

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