Winterkind
Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie bedrückt – von einem vernünftigen Menschen zum anderen?“
Er sah sie lange an, den Hut noch in der Hand. Schließlich beugte er sich über sie, so nah, dass die Grenze der Schicklichkeit nur noch eine Haaresbreite weit entfernt war. Als er sprach, war seine Stimme sehr leise.
„Fräulein Sophie, ich bin mir nicht sicher, ob Sie wirklich hören wollen, was ich zu sagen habe. Gestern berührte es Sie so unangenehm, als wir auf das Erbe zu sprechen kamen – Sie in ihrer ganz ungewohnten femininen Genierlichkeit.“ Er unterbrach sich, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Dann seufzte er. „Verzeihen Sie, verzeihen Sie. Überhören Sie das einfach. Ich will Sie nicht kränken. Ich will mit Ihnen reden, ich glaube, ich zerspringe, wenn ich es nicht tue. Wir hätten dieses Erbe dringend gebraucht, verstehen Sie? Noch dringender, als ich geahnt habe.“
Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, räusperte sich.
„Der Spiegel – er ist tatsächlich das einzige, was wir aus dem grässlichen Schloss mitgenommen haben. Aber wir haben dafür viel dagelassen. Die Bediensteten …“ Seine Stimme senkte sich bis zu einem Flüstern. „Sie waren alle nicht bezahlt, seit Monaten nicht. Viele waren es ja nicht, aber das läppert sich, verstehen Sie? Und es gab noch andere offene Posten. Sogar dem feinen Herrn Pastor musste was in die Hand gedrückt werden für die Mühe, seine Pflicht zu erfüllen. Was denken Sie wohl, wer all die offenen Hände mit Münzen gefüllt hat?“
„Der gnädige Herr“, sagte Sophie langsam.
Anton nickte mit verzogenem Mund.
„Wer sonst? Die Börse, die er mitgenommen hatte, wog praktisch nichts mehr, als wir zurückfuhren. Er hat dort ein schlechtes Geschäft gemacht, ein sehr schlechtes. Was meinen Sie, warum er so sehr schlecht gelaunt war! Aber es ist noch schlimmer. Noch viel schlimmer, Fräulein Sophie. Am Freitag ist Zahltag in der Hütte oben.“
Sie runzelte die Stirn.
„Herr von Rapp wird doch sicher genug Barmittel im Tresor haben, meinen Sie nicht?“
Jetzt lachte er, kurz und knochentrocken.
„So, denken Sie? Herr von Rapp hielt es ja damals für eine gute Idee, die wöchentlichen Zahltage bei den Festangestellten zusammenzulegen zu einem monatlichen Lohntag. Das war es sicher auch. Aber jetzt ist es natürlich ein viel größerer Betrag jedes Mal. Ein Betrag, den wir in diesem Monat …“
Ihr wurde kalt, als sie endlich verstand.
„Den wir nicht haben?“, flüsterte sie.
Er nickte knapp. „Nicht einmal ansatzweise. Diese verdammten Aktienkurse! Wir haben die Männer schon die letzten Male nur schleppend bezahlt. In diesem Monat haben wir gar nichts für sie. Gar nichts. So stehen die Dinge. Jetzt wissen Sie es.“
Sophie musterte ihn fassungslos.
„Aber woher – woher wollen Sie denn das alles wissen?“
„Ach, Fräulein Sophie“, er lächelte müde, „wie sind Sie nur so eine vernünftige Person geworden und dabei gleichzeitig so naiv geblieben. Er erzählt mir vieles, oft mehr, als er selbst weiß. Ich bin sein Diener. Ich bin immer bei ihm. Und wenn ich nicht bei ihm bin, dann sitze ich mit anderen Dienern zusammen, wenn wir in der Stadt sind. Dienern von Aktionären, von Gläubigern. Heute hat er mich auch zu sich gerufen …“ Er stockte plötzlich, sprach dann schneller weiter. „Glauben Sie mir, ich weiß, was es zu wissen gibt. Und Sie wissen es jetzt auch. Sehen Sie selbst zu, was Sie damit anfangen können. Am besten wär’s, Sie beten fleißig. Beten Sie für Geld, Fräulein Sophie, auch wenn Sie das unfeine Wort nicht benutzen wollen. Ich schätze, das ist alles, was Sie tun können.“
Sie öffnete den Mund, ohne zu wissen, was sie sagen sollte. Nur ein abgedroschener Gemeinplatz fiel ihr ein.
„,Wenn man denkt, es geht nicht mehr …‘“, sagte sie un-sicher und schämte sich dabei für die Belanglosigkeit.
Er spottete nicht, musterte sie nur mit unerklärlicher Eindringlichkeit.
„Glauben Sie das? Glauben Sie das tatsächlich? ,Kommt von irgendwo ein Lichtlein her …‘ Wissen Sie was, Fräulein Sophie, es ist möglich, dass Sie recht haben mit dieser Plattitüde. Ein Lichtlein kommt manchmal aus den seltsamsten Richtungen, wenn man es am dringendsten braucht.“
Sie verstand nicht, was er meinte; verstand auch nicht, warum er dabei den Spiegel ansah, als verberge sich hinter dem Tuch irgendein Geheimnis.
„Selbst, wenn er genug wert wäre“, sagte sie zögernd, „Frau von Rapp
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