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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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nach oben muss, und Lieschen – nun, Lieschen, die Sie ja wohl kennen …“
    Er nickte und schmunzelte ungeniert. Sophie schluckte.
    „Lieschen hatte die Idee … Sie meinte, dass Sie und ein, zwei Freunde vielleicht so nett wären, uns zu helfen. Dem gnädigen Herrn ist es recht.“
    Er schob sich die Mütze ins Genick, was irgendwie sehr tatkräftig wirkte. Das Winterlicht zeichnete sein Profil nach, das starke Kinn, die gerade Nase, die hohe Stirn. Klassisch, griechisch beinahe, wie die Abbildungen von Statuen in Vaters Büchern … Merkte er, dass sie es bewunderte, den Bruchteil eines Augenblicks? Es kam ihr so vor, als sie den Blick beiseiteschweifen ließ, dass er den Kopf ein wenig länger so hoch aufgerichtet hielt, als er es sonst getan hätte. Sie fühlte sich ertappt und sagte vielleicht deshalb eher kühl und von oben herab:
    „Ich denke, es wird wohl auch eine kleine Anerkennung für Ihre Dienste geben.“
    Willem schien sich nicht daran zu stören.
    „Gerne, Frollein, es ist ja kein Weg bis zum Haus. Und Geld können wir alle immer brauchen, nicht?“ Er grinste breit. „Wenn’s recht ist, würde ich wirklich noch einen Freund dazu holen, einen guten Kumpan. Er ist einer von denen, die gehen mussten letzten Monat. Schade war’s, ein feiner Glasmacher, keiner von den Ungelernten, hat es aber schon zu stark an der Lunge. Der könnte ein bisschen was extra sogar ganz dringlich brauchen, wenn Sie verstehen. Er kriegt nur noch ab und an Hilfssachen zu tun. Das reicht nicht hinten und nicht vorn.“
    Sophie nickte. Es gab viel Gerede in letzter Zeit von Krankenversicherungen und Renten für die Arbeiter. Aber Gerede allein machte noch keinen satt.
    „Heute Abend nach meiner Schicht sage ich ihm Bescheid, er hat den Monat noch Wohnrecht hinten in den Arbeiterhäusern. Er ist nicht von hier, wissen Sie? Stammt von irgendwo aus dem Osten, glaub ich. Ist aber ein anständiger Kerl. Wir kommen gleich morgen früh, wenn’s recht ist. Gehen Sie man zurück, Frollein, und sagen Sie den Gnädigen, wir kümmern uns drum. Ach, und Frollein …“
    Er fingerte in seiner Jackentasche herum, zog etwas hervor, das Sophie erstaunt als ein großes, rotkariertes, arg zerknittertes Schnupftuch erkannte. Er hielt es ihr hin.
    „Nehmen Sie mal das hier, Ihr kleiner Fetzen taugt ja nichts. Der Ruß und der Tropfen da an Ihrer hübschen Nase sehen zwar ganz putzig aus, aber so wollen Sie vielleicht doch lieber nicht ins Herrenhaus kommen.“
    Er zwinkerte ihr zu.
    Sophie war so verblüfft, dass sie sich das Tuch widerstandslos in die Hand drücken ließ.
    Na, dachte sie nur, während Willems breiter Rücken wieder zwischen den anderen Arbeitern verschwand. Na!
    Was sie damit meinte, wusste sie selber nicht. Es kribbelte ein wenig in ihr, wie Sprudelwasser. Im Gehen hob sie das Taschentuch, und auf der Straße, wo niemand sie mehr sah, schnäuzte sie sich kräftig hinein.

    In der Halle des Herrenhauses stolperte sie beinahe über Anton.
    „Suchen Sie mich, Fräulein Sophie?“, fragte er mit dem gewohnten Spott. „Wollten Sie mich um ein heimliches Stelldichein in der Wäschekammer bitten? Sie wissen doch, dafür sind wir beide nicht recht gemacht.“
    Sie wollte eine spitze Antwort geben. Aber über der glänzenden gestreiften Seidenweste wirkte sein Gesicht grau und angespannt. Waren sie sich heute überhaupt schon begegnet? Er schien immer noch müde zu sein von der langen Fahrt. Oder hatten auch in seinen Träumen Krähen gekrächzt? Sie schluckte die Spitze hinunter und fragte bloß:
    „Was drücken Sie sich denn hier herum?“
    „Ach“, sagte er, „das würden Sie doch nicht verstehen. Sagen wir doch einfach, ich wollte mir auch endlich einmal das Corpus Delicti aus der Nähe ansehen, bin aber ein wenig zu spät gekommen, wie es scheint.“
    Er nickte zum Spiegel hin. Karl hatte den Kasten inzwischen entfernt, alle Bretter waren fort, und der Fliesenboden glänzte frisch gefegt. Ein schweres weißes Tuch, mit Strippen festgezurrt, bedeckte den Spiegel fast völlig. Nur bis an die untere Kante hatte es nicht ganz gereicht. Das Licht des Kronleuchters reflektierte dort matt auf Glas und Steinen.
    Anton hatte leichthin gesprochen, wie immer, aber Sophie sah die tiefen Falten auf seiner Stirn. Aus einem Impuls heraus sagte sie:
    „Sie hatten mir doch gestern erst gesagt, dass Sie mich für eine vernünftige Person halten. Was, nebenbei bemerkt, recht unverschämt von Ihnen war. Aber ich will es Ihnen nachsehen.

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