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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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Bettdecke trug sie nichts als ihr dünnes weißes Nachthemd. Sophie seufzte.
    „Was stehen Sie hier in der eiskalten Halle, sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Haben Sie eben geschrien?“
    „Ich habe nichts gemacht, ich wollte nur mal schauen!“
    Sophie trat auf sie zu. Das weiße Tuch schien etwas verrutscht zu sein. Es konnte geschehen sein, als das Mädchen zu heftig an der Stoffecke zog in seiner Neugier. Ansonsten wirkte der Spiegel unberührt.
    Sie sah zu Johanna. Als sie die Hand ausstreckte, um ihre Stirn zu fühlen, ließ das Mädchen die Decke fahren und schlug schnell beide Arme über den Kopf, um nicht an den Haaren gerissen zu werden. Sophie hatte Mühe, nicht zu schmunzeln.
    „Unsinn machen und sich dann vor der Strafe drücken wollen, Fräulein Johanna? Habe ich Ihnen das beigebracht?“
    Johanna ließ die Arme sinken. Ihr Blick klebte immer noch an Sophies Miene. Aber die Lippen schürzten sich trotzig.
    „Ich habe nichts gemacht“, murmelte sie noch einmal. Ihre Stirn war immer noch warm, aber nicht heiß. Gut, dachte Sophie. Nach außen hin schüttelte sie den Kopf.
    „Aufstehen, obwohl man krank ist, nach unten laufen, wo man nichts zu suchen hat, das nennen Sie ,nichts gemacht‘? Dieser Spiegel ist sehr kostbar. Und er bedeutet Ihrer Mutter viel. Was, wenn Sie ihn beschädigt hätten?“
    Johanna nahm die Arme herunter und ließ den Kopf hängen.
    „Ich war nur neugierig“, sagte sie leise. „Mir war gar nicht mehr krank zumut, als ich aufgewacht bin. Und gestern konnte ich ihn mir ja nicht ansehen. Da dachte ich …“
    „Da dachten Sie, ich laufe schnell hinunter und drehe und wende mich davor wie ein eitler Pfau, bevor mich irgendjemand dabei erwischen kann, wie? Habe ich Ihnen denn nicht hundertmal erzählt, was mit eitlen Mädchen passiert?“
    „Ihnen fallen alle Zähne aus beim ersten Kind, gleich wenn der Klapperstorch sie ins Bein beißt“, sagte Johanna noch leiser. „Aber ich war nicht eitel, wirklich nicht. Ich wollte nur – und dann habe ich mich irgendwie erschreckt, glaube ich. Aber ich, ich weiß nicht mehr, wovor.“
    „Tatsächlich nicht?“ Daher also der kleine Schrei. Sophie musterte ihren Schützling scharf. Johanna schien es nicht zu merken, ihr Gesicht war wieder so seltsam nachdenklich, wie oft in der letzten Zeit.
    „Fräulein Sophie“, fragte sie plötzlich, ganz zusammenhanglos, „wenn man etwas gemacht hat, was man nicht durfte – wenn man wirklich etwas gemacht hat – aber es hat niemandem geschadet – und wenn man es dann Gott sagt und bereut, dann ist alles wieder gut, oder? Dann kann einem doch niemand mehr – böse sein deswegen?“
    Sophie hatte das Gefühl, den Faden schon vor einer Weile verloren zu haben, ohne es zu merken.
    „Böse?“, fragte sie. „Wer ist Ihnen denn böse?“
    „Johanna!“
    Die Stimme kam von oben, ließ sie beide schuldbewusst zusammenzucken. Frau von Rapp stand auf dem Treppenabsatz, schon fertig angekleidet, jede Falte, jede Haarnadel an ihrem Platz. Nur ihr Gesicht passte nicht dazu: Es war besorgt, aufgewühlt, das glatte Porzellan voller Sprünge.
    „Was tust du hier unten … bei – dem Spiegel?“
    Irgendetwas an der Frage gefiel Sophie nicht. Vielleicht lag es daran, dass sie es lieber gehört hätte, wenn Frau von Rapp zuerst wegen Johannas Gesundheit gescholten hätte als wegen des Spiegels? Sie ließ sich nichts anmerken, schluckte ihre Verwirrung hinunter und antwortete schnell:
    „Sie hat nichts getan, gnädige Frau. Sie war nur neugierig. Ich bringe sie aber gleich wieder hinauf.“
    Frau von Rapp krampfte eine Hand um das Treppengeländer.
    „Hast du ihn angefasst? Hast du hineingesehen? Hast – du – ihn – angefasst?!“
    Die letzten Worte schrie sie fast. Johanna schmiegte sich an Sophies Rock. Der Stoff zitterte. Sophie stand wie vom Donner gerührt.
    „Nichts“, stammelte das Mädchen, „ich habe … habe gar nichts … ein bisschen, vielleicht … nur ganz kurz …“
    „Bleib weg von ihm! Hörst du? Bleib weg! Ich verbiete dir, dem Spiegel nahezukommen, verstehst du mich? Ich verbiete es dir!“
    „Gnädige Frau“, sagte Sophie und merkte, dass ihre Stimme nicht ganz sicher klang, „ich glaube wirklich, dass Johanna es nicht böse gemeint hat. Und sie hat ihn bestimmt nicht beschädigt.“
    „Beschädigt?“ Blanka von Rapp starrte sie an, die Augen weit offen, verdunkelt, wie von schweren Wolken. Mit langsamen Schritten kam sie die Treppe herunter, die Hand immer

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