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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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wird ihn niemals hergeben.“
    „Lassen Sie’s“, sagte er und lachte wieder. Es klang fast heiter diesmal. „Sie kommen ja doch nicht drauf. Das wollen Sie auch nicht, glauben Sie mir. Beten Sie einfach für das Lichtlein, wie wäre das? Und auch, wenn Sie es nicht verstehen: Sie werden wissen, wann Ihr Gebet in Erfüllung gegangen ist. Das ist doch etwas, finden Sie nicht?“
    Er drückte ihr den Hut in die Hand, zwinkerte und ließ sie stehen.

Als auch der Hausarzt, der alte Physikus, endlich überzeugt war, dass ihre Wöchnerinnengefangenschaft im Turmzimmer nun lange genug gedauert hatte, warf sie sich mit Eifer wieder auf ihre Pflichten. Nur einen Monat nach der Geburt richtete sie ein Diner für fünfzig Gäste im Schloss aus; nach zwei Monaten fuhr sie meilenweit, um Besuche zu erwidern, wie sie es immer getan hatte. Das Kind blieb dann in der Obhut der Amme, einer jungen, gesunden Frau aus dem Dorf; aber wenn sie zurückkehrte, führte ihr erster Weg sie nach oben ins Turmzimmer, wo die Wiege immer noch am Fuß des geschnitzten Ehebetts stand. Oft genug blieb sie auch stundenlang dort, spielte mit dem Mädchen oder betrachtete es entzückt, wenn es schlief. Ihr Mann liebte es, wenn er sie bei dem Kind fand. Manchmal schien es ihr fast so, als ob er sich wünschte, dass sie nichts anderes tat. Aber er sagte nichts. Eine Zeitlang blieb er selbst viel zu Haus, spielte mit dem Kind, vernachlässigte seine eigenen gesellschaftlichen Pflichten, bis sie ihn behutsam daran erinnerte. Es gab so unendlich viel zu tun … Ihr Leben wurde schnell wieder so, wie es immer gewesen war. Sie bildeten den strahlenden Mittelpunkt jeder Gesellschaft, jedes Balls und jedes diners , und wenn sie irgendwann weit nach Mitternacht unter den Baldachin des Ehebetts sanken, schliefen sie ein, kaum dass sie den Gutenachtgruß getauscht hatten.
    Zeit verging, Monate, Jahre. Das kleine Mädchen wuchs heran, wurde hübscher und lebhafter mit jedem Tag. So lebhaft, dass man es ab und an in die Schranken weisen musste, weil es mit dem Gesinde im Hof schwatzte oder in den Wald lief, um mit den Bauernkindern zu spielen. Es lernte schnell; und was es lernte, das brachte sie ihm bei. Sie übte mit ihm, bis seine Aussprache klar und rein war; bis seine Sätze wie die eines kleinen Erwachsenen klangen. Sie zeigte ihm, wie man sich gerade hielt, wie man die Füße zierlich setzte. Vor dem großen alten Spiegel kämmte und flocht sie ihm selbst die Haare, und das kleine Mädchen machte es ihr an seiner Puppe nach. Tage und Wochen flogen vorbei, in einem emsigen, strahlenden Reigen.

    Wie glücklich sie in dieser Zeit gewesen war, merkte sie erst, als das Licht anfing sich zu trüben. Wann es begann, hätte sie nicht sagen können; es gab keinen einzelnen Moment, kein bestimmtes Ereignis, auf das sie im Nachhinein hätte deuten können: Das war es. Und ich habe es übersehen. Irgendwann schien es ihr so, als ob ihr Mann sehr viel mehr Zeit in der Stadt, bei Freunden und Verwandten verbrachte, als er es vorher getan hatte. Und hatte er früher jemals in einem der Gästezimmer geschlafen, wenn er spät nach Hause gekommen war? Jetzt sagte er entschuldigend, er habe das Kind nicht wecken wollen. Und natürlich hatte er recht. Sie schalt sich selbst eine Närrin, zwang sich, an andere Dinge zu denken, die tausend Pflichten, die ständig auf sie warteten. Aber sie hörte auch, dass allmählich die Dienstboten zu tuscheln begannen.
    Sie ließ sich nichts anmerken. Bestellte stattdessen neue Toiletten bei den Schneidern in Paris, gab Diners, Empfänge, Bälle, jedes der immer selteneren Male, wenn er wieder zu Hause war. Präsentierte sich strahlend ihren Gästen, fühlte die Blicke aller Männer auf sich ruhen – nur den einen, einzigen immer weniger. Sie trug Dekolletés, die kaum noch etwas verhüllten, spielte kokett mit dem Fächer, ließ keinen Tanz aus und lachte über alle Scherze. Er lobte sie hinterher für das wunderbare Fest; legte sich dann wieder im Gästezimmer schlafen, obwohl das kleine Mädchen inzwischen sein eigenes Zimmer mit einem Kinderfräulein bewohnte. Er musste so früh aufstehen, um sich mit einem Pächter zu treffen, er wollte sie nicht stören … Sie sagte nichts, nickte nur lächelnd. Und im Turmzimmer fand sie keine Ruhe, bis in die Morgenstunden nicht.
    In dieser Zeit wurde der Spiegel ihr Vertrauter. Sie verbrachte Stunden vor dem schweigenden, schimmernden Glas, suchte ihr Gesicht noch genauer nach Falten ab. Trug

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