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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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allein.

    Draußen auf dem Flur blieb Sophie stehen und presste beide Hände gegen die Brust. Ihr Herz hämmerte. Die Steine! Wo waren die Steine! Sie hatte die untere Kante des Spiegels doch gesehen, gestern Abend, als er noch in der Halle stand. Als sie mit Anton … Anton? Was hatte er gesagt?
    „Denken Sie an das Lichtlein …“
    Das Lichtlein in der Dunkelheit der Zahlungsunfähigkeit. Oh Herrgott! Hatte Anton die Steine herausgelöst, irgendwann in der Nacht? Da waren Schritte gewesen …
    Die Kehle wurde ihr eng. Sie erinnerte sich nur noch vage daran, gegen Mitternacht etwas gehört zu haben. Hatte sie nachgesehen? Ihr war so, als ob sie die Tür ihrer Kammer einen Spalt breit geöffnet hätte, vom Bett aus, ohne aufzustehen. War da ein Schemen gewesen, ein flackerndes Licht?
    Sie wusste es nicht mehr genau, aber sie fühlte, dass es so gewesen war. Anton! Es war nicht möglich. Sie sah ihn vor sich, sein scharf geschnittenes, spöttisches Gesicht, seine makellose Weste, die immer glänzend polierten Schuhe. Und doch, und doch – wie konnte es anders sein? Johanna? Da war ihre merkwürdige Frage gewesen … Aber das Kind hätte heute Morgen niemals unbemerkt die Steine herauslösen können, ohne Werkzeug und allein. Und selbst wenn, hätte Johanna es nicht getan. Sie war aufmüpfig, sie war keck – aber sie war keine Diebin. Hinter ihrem Verhalten steckte etwas anderes, wenn Sophie auch nicht wusste, was es war.
    Anton! Es blieb nur Anton. Und er musste Herrn von Rapp auch überredet haben, in die Stadt zu fahren. Es war wahrscheinlich nicht einmal schwierig gewesen. Der Hausherr wusste, dass nicht genug Geld für die Löhne da war. Früher oder später würde er es versuchen müssen, doch noch etwas aufzutreiben, wenigstens genug, um die Arbeiter hinzuhalten. Bei einer der Banken vielleicht oder einem Geschäftsfreund. Natürlich würde er nicht wollen, dass seine Frau davon etwas ahnte. Aber Anton wusste von der Misere, und Anton – er musste geglaubt haben, dass es seinem Herrn nicht gelingen würde, genug Geld zu beschaffen. Oh Gott, standen die Dinge denn wirklich schon so schlecht? Wollte Anton die Steine verkaufen, wenn sein Herr ihn gerade nicht brauchte? Dann das Geld irgendwo verstecken – und dann? Was dann? Wollte er ihm vormachen, er habe es irgendwo gefunden, in einer Tasche, wo es bisher übersehen worden war? Ihm, einem Kaufmann?
    Sophie wurden die Knie weich. Sie musste sich an der Wand abstützen.
    Die Vorstellung, Anton würde Herrn von Rapp Geld aus dem Verkauf der Steine unauffällig unterschieben wollen, war lächerlich. Rührend vielleicht – aber lächerlich. Es mochte sein, dass der Fabrikant von den technischen Dingen nicht viel wusste, die in der Glashütte vor sich gingen. Immerhin hatte er die Anlagen nur geerbt. Aber wie hatte Anton es selbst doch gesagt, vorgestern noch, im Park? „Ein Kaufmann denkt immer an Geld. Immer.“ Und ein Kaufmann wusste auch genau, über wie viel er verfügte – oder eben nicht verfügte.
    Es gab nur eine Schlussfolgerung. Sie beunruhigte Sophie so sehr, dass sie sich zwingen musste, sie zu denken.
    Herr von Rapp wusste vom Diebstahl der Steine. Mehr noch. Er hatte Anton damit beauftragt. Vielleicht hatte er die Steine sogar selbst herausgelöst. Aber ganz gleich, ob Herr von Rapp es selbst getan oder nur in Auftrag gegeben hatte – seine Frau wusste nichts davon. Sie war überrascht gewesen, schmerzlich berührt, als sie das Fehlen der Steine entdeckte. Sie ahnte nichts.
    Rechtlich war es auf diese Weise zwar kein Diebstahl mehr; das Eigentum der Ehefrau stand in der Verfügung des Ehemannes, so bestimmten es die Gesetze. Und sie galten für Tagelöhnerweiber genauso wie für Fabrikantengattinnen. Aber Sophie war sicher, dass es Blanka von Rapp nicht gefallen würde, wenn sie davon erführe. Der Spiegel war, wie es schien, das einzige Andenken an ihre Mutter. Und wie schwierig auch immer die Beziehung zwischen beiden gewesen sein mochte – sie sorgte sich um den Spiegel, als wäre er ein lebendiges Wesen. Und sie betrachtete ihn als ihr Eigen.
    Die Tatsache, dass die Steine nur mit Wissen des Hausherrn verschwunden sein konnten, bedeutete noch mehr. Die Geschäfte der Rapp Glas AG mussten inzwischen so schlecht gehen, dass Herr von Rapp selber nicht damit rechnete, genügend Barmittel für die Lohnzahlung am Freitag auftreiben zu können. Sophie verstand nicht viel von geschäftlichen Dingen, aber eines war ihr doch klar: Wenn ein

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