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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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noch einmal herum. Sie starrte in den Spiegel, in ihr eigenes bleiches Gesicht.
    „Wag es nicht!“, hörte sie sich selbst fauchen, mit einer ganz fremden, wilden Stimme, ohne zu wissen, wen sie damit meinte. „Wag es nur nicht!“

Der Spiegel zeigte ihr die Wahrheit. Als sie am wenigsten damit rechnete, als sie sich schon fast vollständig eingehüllt hatte in Hoffnung. Auf dem Weg zu einem weit entfernten Herrenhaus, das sie allein besuchen wollte, während ihr Mann sich zu Hause von einer Reise ausruhte, brach ein Wagenrad. Zu ihrem Glück – wenn es denn Glück war – lag ein Gasthof in der Nähe, und eine stickige Kutsche voller entzückter, überschwänglicher Bürgersfrauen brachte sie zurück zum Schloss, einen Tag früher als angenommen. Sie seufzte vor Dankbarkeit, als der Hausknecht ihr aus dem Schlag half und die plappernde Gesellschaft endlich in der Abenddämmerung verschwand. Die Luft war mild und klar; eine Amsel schlug irgendwo und vertrieb die Kopfschmerzen, die sie in letzter Zeit immer wieder plagten.
    Im Schloss begegnete sie niemandem außer der Zofe, die sofort wie ein Schatten hinter ihr her huschte, hoch ins Turmzimmer, wo sie sich ungeduldig selbst die Nadeln aus dem Hut zog. Der Spiegel empfing sie mit seinem sanften, matten Schimmer. Sie musterte sich; war da wieder eine neue dieser seltsam trockenen Stellen an ihrem Kinn? Mit den Fingerspitzen tastete sie darüber, während die Zofe die Schnüre am Rücken ihres Mieders löste. Als sie sich noch näher zum Spiegelglas beugte, fing irgendetwas im Zimmer hinter ihr ihren Blick ein. Irgendetwas, das anders war als am Morgen. Das dort war, wo es nicht hingehörte.
    Es war rot.
    Sie drehte sich um, schob die Zofe beiseite. Was war das? Es lag neben dem Ehebett auf dem Fußboden, fast vollständig von den herunterhängenden Falten des Baldachins verdeckt. Fast. Mit der Schuhspitze schob sie es unter dem Stoff hervor. Es sah aus wie … eine Haarschleife?
    Ihr wurde plötzlich kalt. Sie trug die Haare aufgesteckt, mit Kämmen und Nadeln, wie es sich für eine verheiratete Frau gehörte. Keine Schleifen. Keine Bänder.
    „Heben Sie das auf“, herrschte sie die Zofe an, die ungeschickt gehorchte. Zwischen ihren Fingern war das kleine Stückchen Stoff grob, billig, aber sauber gesäumt. Falten und Knicke zeigten an, wo es normalerweise fest um einen Zopf gebunden wurde.
    „Wem gehört das?“, fragte ihr Mund ohne ihr eigenes Zutun. „Wie kommt das hierher?“
    Die Zofe stotterte irgendetwas. Sie verstand es nicht, aber einen stolpernden Herzschlag später spielte das schon keine Rolle mehr. Wie von selbst hatte sich ein Bild vor ihr inneres Auge geschoben; ein Bild von hüftlangen, dicken blonden Zöpfen, die neben einer schlanken Mädchengestalt hin- und herschwangen, wenn sie sich nach einem Ascheimer bückte. Blonde Zöpfe mit auffallenden roten Bändern …
    Elsbeth, dachte sie. Elsbeth, das Küchenmädchen.
    Die Knie gaben unter ihr nach.
    Die Zofe stützte sie mit zitternden Händen, stammelte wieder.
    „Es ist bestimmt nicht – ach, ich meine …“
    „Sei still“, sagte sie heiser und kalt. Sie umfasste den Bettpfosten, schüttelte die fremden Hände von sich ab. Die Zofe verbarg das Gesicht in der Schürze und schluchzte erstickt:
    „Ach, ach, gnädige Frau … Wir wussten doch nicht, ob wir Ihnen was sagen sollten …“
    Sie starrte in den Spiegel, ohne etwas zu sehen.
    „Geh“, sagte sie. „Geh.“

    Elsbeth. Sie flüsterte diesen Namen gegen den Spiegel, immer wieder und wieder. Elsbeth mit den blonden Zöpfen. Elsbeth, die Waise, die sie selbst vor Jahren ins Haus geholt hatte. Elsbeth, mit einer schlanken Taille wie zartes Schilf am Moor, Elsbeth, die unschuldige Elsbeth, die noch nie ein Kind geboren hatte. Die kein Korsett brauchte, keine Mieder. Elsbeth. Unter ihrem eigenen Dach. Keine Fragen, keine Zweifel. Für die Haarschleife eines Küchenmädchens gab es nicht den kleinsten triftigen Grund, im Herrschaftsschlafzimmer neben dem Bett auf dem Boden zu liegen.
    Und alle hatten es gewusst.
    Alle.
    Sie sprach nicht darüber. Sie ließ sich nichts anmerken. Auch ihrem Mann gegenüber nicht. Sie gab das Fest am übernächsten Tag, wie es vorgesehen gewesen war; tanzte und lachte. Brillierte. Und als er ihr hinterher dankbar die Hand küsste für den wunderbaren Abend, nahm sie es lächelnd entgegen. Das, was sie spürte in diesem Augenblick – all den Schmerz, all das Leid, all den ungeheuren, brandrot lodernden

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