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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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umdrehte zum Spiegel, war wie eine Antwort darauf. Mit einem einzigen Schritt war sie bei ihm, rasch, bevor sie den Mut wieder verlieren konnte. Riss das Tuch herunter, so schnell, dass ihre eigenen Gedanken der Bewegung nicht folgen konnten. Erst, als es am Boden lag, wurde ihr klar, dass sie es getan hatte. Sie stand gerade vor dem Spiegel. Und nichts, nichts trennte sie mehr von der schimmernden Fläche aus Glas.
    Es dauerte lange, bis sie den Blick heben konnte. Ihre Augen tasteten sich von unten herauf, über das Tuch, über poliertes Ebenholz, über die matt glänzenden Steine. Hielten inne, als sie zum ersten Mal über Glas streiften. Dieses matte, grausilbrige Glänzen … Wie lange hatte sie es nicht mehr so nahe gesehen? Nur ein alter Quecksilberspiegel, hatte Johann abfällig gesagt. Aber was wussten Männer schon von Spiegeln? Männer verlangten Klarheit, Eindeutigkeit; grelle, grausame Genauigkeit, wie die modernen Silberspiegel sie zeigten. Spiegel, die das Licht brachen und seine Splitter vertausendfachten, die den Raum aufrissen wie Fenster ins Nichts. Aber dieses verhaltene Schimmern … Es brach das Licht nicht, das darauf fiel, sondern nahm es ganz sanft entgegen. Verwandelte, verschleierte es, bis es so weich war wie gemalt …
    Blanka holte tief Luft und ließ die Augen langsam höherwandern. Ihren eigenen Rock hinauf, den schweren, bordeauxfarbenen Samt, in unzählige Falten gelegt, gerafft und mit Zierperlen bestickt. Ihr war so, als müsste sie sich an jeder einzelnen festhalten, mühsam höherklettern mit ihrem Blick. Da war ihre Taille, fest geschnürt und immer noch schlank wie bei einem jungen Mädchen, trotz Johanna; das Mieder, mit einer dichten Reihe Samtschleifen verziert, wie Stufen, die nach oben führten. Die kleine Mulde zwischen ihren Schlüsselbeinen, die nach einem hübschen Anhänger zu verlangen schien – aber sie trug alltags niemals irgendeinen Schmuck, außer ihrem Ehering, und der war unter dem Handschuh verborgen. Ihr Blick wanderte weiter nach oben, den hochgeschlossenen Kragen hinauf.
    Dann sah sie sich selbst ins Gesicht, den Bruchteil eines Augenblicks nur. Sie riss den Blick sofort wieder beiseite, aber – war es so schlimm gewesen? Ein flüchtiger Eindruck von milchweißer Haut hinter dem weichen grauen Schleier, von dunklen Wimpern und geschwungenen Brauen.
    So schlimm?
    Sie atmete aus, spürte die wolkigen Gebilde in sich, wie sie sich träge bewegten. Immer noch konnte sie nicht hineinsehen, wusste nicht einmal, ob sie es wollte; empfing nur schwache Ahnungen von den Dingen, die darin trieben: Bilder, Geräusche, Gerüche. Sie wusste, jedes einzelne davon hing mit den alten Mauern zusammen, mit den Türmen und – mit Ihr . Aus dem Dunkel, das Blanka in sich spürte, schien eine Stimme heranzutreiben, voll, samten, ganz ohne Spott dieses Mal. Sang sie? War es wirklich ein Lied, was sie mitbrachte?
    Blanka sah sich selbst in die hellen, nachdenklichen Augen. Sie fühlte, wie ihre Lippen sich öffneten. Aber es war nicht ihr Mund, aus dem die leisen, kaum zu verstehenden Worte kamen:
    Du bist mein / Ich bin dein / Sag, was könnte schöner sein?

    Langsam, ohne den Blick abzuwenden, tastete Blanka nach dem Klingelzug, der dicht neben dem Bett an der Wand hing. Ein weit entfernter, klarer kleiner Ton hallte zu ihr herauf. Er war so gewöhnlich, so alltäglich, dass er den Bann brach. Sie schaffte es, den Kopf wegzudrehen.

    Es dauerte seltsam lange, bis polternde Schritte auf der Treppe erklangen und die Tür endlich aufgestoßen wurde, ganz ohne jedes Klopfen.
    „Lieschen“, sagte Blanka, aber das Hausmädchen schien ihr gar nicht zuzuhören. Die runden Augen in dem runden Gesicht waren noch größer als sonst.
    „Ach, gnä‘ Frau“, Lieschen keuchte, „ich wusste nicht, dass Sie schon oben sind. Ich bin durchs ganze Haus gerannt. Das Kind – das Kind!“
    Eis schoss durch Blankas Körper. Johanna – der Spiegel … der Spiegel!
    „Das Fieber“, stotterte Lieschen, „ist in die Höhe geschossen, ganz plötzlich, von einer Minute zur anderen! Das Kind weint und redet ganz wirr! Fräulein Sophie hat mich geschickt, nach Ihnen zu suchen. Kommen Sie, gnä‘ Frau!“
    Das Eis sammelte sich in Blankas Gliedern, ihren Knochen. Machte sie kalt und ruhig. Sie nickte wortlos dem Mädchen zu, das sofort die Tür wieder aufriss und in den Flur stürmte. Blanka folgte Lieschen, so schnell sie konnte. Aber bevor sie die Schlafzimmertür zufallen ließ, fuhr sie

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