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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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ihr langer Zopf neben ihr auf dem Kissen drapiert; genauso, wie sie sich schlafen gelegt hatte. Und wenn es vorkam, dass Johann bei ihr – nun, einschlief, dann schreckte er sie manchmal mit seinem kalten Rasierspiegel auf, den er ihr unter die Nase hielt, um zu sehen, ob sie noch atmete. Blanka war sicher, dass eine Dame sich auch im Schlaf zu beherrschen hatte. Woher sie das wusste und wer es ihr eigentlich beigebracht hatte, fragte sie sich nie. Es gehörte zu den Dingen, die man eben wusste als Frau.
    Johanna wusste es offensichtlich noch nicht. Fräulein Sophie würde es ihr wohl vermitteln, zu einem passenden Zeitpunkt – Fräulein Sophie, die ihrer Tochter längst viel näherstand als sie selbst. Wann hatte das eigentlich begonnen? Es schien noch gar nicht lange her zu sein, dass Johanna sich anfühlte wie ein Teil von ihr, so nah und so unendlich vertraut. Dass sie ihre Mutter gebraucht hatte. Jetzt lief sie selbständig herum, sie lernte Lesen und Schreiben und Französisch und Zeichnen, ganz, wie es einem jungen Mädchen zukam – Dinge, die nicht Blanka ihr beibrachte, sondern Fräulein Sophie. Es gab Tage, da sprachen sie kaum ein Wort miteinander, begegneten sich nur zu den Mahlzeiten … Und doch musste sie immer ihr waches Auge auf dem Mädchen haben, jetzt schon, und wie viel mehr noch in den kommenden Jahren, wenn Johanna heranwachsen würde. Für Johann war es anders, einfacher. Johann war ein Mann. Für ihn war seine Tochter rosa Zuckerguss und Schlagsahne und tanzender Sonnenschein auf Frühlingsblättern. Und wenn sie ein wenig keck war, ein wenig vorlaut, dann war es für ihn nur ein willkommener Ersatz für den Stammhalter, den er sich ersehnte … Er sah nur ihre niedlichen Löckchen, ihr süßes Lächeln, ihren unschuldigen Augenaufschlag. Dass es harte Arbeit werden würde, dafür zu sorgen, dass sie auch so blieb – so niedlich, süß und unschuldig – das sah er nicht und würde er niemals sehen. Er würde sie nur eines Tages einem Fremden in die Arme geben, voller Stolz auf seinen makellosen, wohlbehüteten Schatz, und auch, wenn sie dann irgendwann selbst Kinder hatte, würde sie in seinem Herzen immer noch genau das bleiben: Zuckerguss, Sahne und Sonnenschein, sein Leben lang.
    Manchmal war das nicht leicht zu verstehen.
    Blanka merkte, dass sie immer gereizter wurde. Sie versuchte, sich wieder auf das Fenster zu konzentrieren, über den roten Turm nachzudenken statt über Johannas gefährlich hübsche Apfelbäckchen oder ihr enervierendes Schmatzen. Aber ihre Gedanken sanken nach unten, hinab in die Halle zum Spiegel, und sie fühlte plötzlich sehr deutlich, dass sie wünschte, er sollte endlich sicher in ihrem Schlafzimmer aufgehoben sein. Für sie allein …
    Dummes Mädchen, wisperte etwas ihr unhörbar zu. Dummes, dummes Mädchen.
    „Sei still!“, zischte sie und presste sofort beide Hände gegen den Mund. Hatte sie es wirklich ausgesprochen? Johanna murmelte und drehte sich auf die Seite. Dann klangen Schritte auf der Bodentreppe, und einen Augenblick später klopfte es an die Tür.
    „Gnädige Frau? Der Spiegel ist oben. Alles ist gut gegangen.“
    Blanka atmete auf.
    „Schön, Fräulein Sophie“, sagte sie laut. „Ich komme gleich.“
    Sie schob den Stuhl zurück, beugte sich noch einmal über ihre Tochter. Das Schmatzen hatte aufgehört. Nur die dichten Wimpern zitterten schwach in irgendwelchen Kinderträumen. Blanka streichelte ihr über das wirre Haar und hatte dabei das seltsame Gefühl, sie für etwas um Verzeihung zu bitten.
    Als sie zum Schlafzimmer ging, spürte sie, wie die Ruhe des Hauses langsam zurückkehrte, seit die Arbeiter fort waren. All die schwachen Gerüche und kaum wahrnehmbaren Geräusche, die sich vor den Männern in die Winkel geflüchtet hatten, kamen schüchtern wieder hervor: das süßliche Bohnerwachs auf den Dielen, die herbe Wolle im Treppenläufer. Ein Türsturz seufzte, ein-, zweimal; unten, in der Halle, schwang das Pendel der Standuhr bedächtig klickend hin und her. Das Draußen, das mit den Männern hereingekommen war, es wich allmählich zurück. Bis das Haus wieder ganz seinen Bewohnern gehörte.
    Vielleicht spürte Sophie es auch. Sie wartete im Flur, lächelte Blanka so herzlich an, und mit einem Mal fiel Blanka auf, dass sie beide ungefähr gleichaltrig sein mussten, Mitte zwanzig. Hatte es nicht in Sophies Unterlagen gestanden? Wie merkwürdig das war, Sophie kam ihr oft um so vieles älter und erfahrener vor. Und wie

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