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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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sie besonders interessiert hat. Sie stimmte damals nur zu, weil sie …“ … musste , war das Wort, das Blanka nicht aussprach. Nicht aussprechen konnte. Es gab Dinge auf der Welt, die selbst eine vor Wut tobende Mutter nicht ungeschehen machen konnte, wenn sie erst einmal passiert waren. Dinge, für die es nur eine einzige Lösung gab. Sie geschahen immer wieder, in allen Familien, allen Schichten. Aber man sprach nicht darüber. Niemals.
    Blanka senkte verlegen den Blick. „Sie kam nicht zur Hochzeitsfeier“, flüsterte sie ihren Schuhspitzen zu, und selbst in der Erinnerung tat es noch weh. „Und nicht zur Trauung im Standesamt. Wir konnten ja nicht in einer Kirche heiraten, zu Hause waren wir katholisch. Es war gut, dass die Regierung die Zivilehe eingeführt hat, und doch … Ich hatte es mir alles anders vorgestellt, wissen Sie. In einer schönen Kapelle, mit einem würdigen Jesuitenpriester. Das war natürlich, bevor der Orden verboten wurde. Und dann ein großes Fest mit allen Verwandten. Aber so –. Es waren nur seine Freunde, die kamen, seine Verwandten. Und ich musste mit ihnen tanzen und glücklich sein …“
    Sie stockte. Die Erinnerung an die Hochzeit war nur noch ganz blass in ihr, wie Worte auf einem alten Stück Papier. Ein Papier, das verloren auf einer großen dunklen Fläche trieb, so dunkel, dass sie nicht sehen konnte, was sich unter der Oberfläche verbarg.
    Haltung, Blanka! Sie rief sich zur Ordnung, schluckte gegen die Dunkelheit an. Sah verlegen nach unten, auf ihre Schuhspitzen.
    Ihr Blick streifte von dort über den Dielenboden, den Läufer, die unterste Kante des Spiegelrahmens. Dieses blasse, tropfenförmige Funkeln der Steine auf dem schwarzen Holz … Wie unzählige Augen, die sie beobachteten. Sie mochte den Gedanken nicht, wollte wegschauen, aber irgendetwas hielt ihren Blick dort fest. Irgendetwas, das nicht so war, wie es sein sollte. An der linken unteren Ecke war die Verzierung des Rahmens ungleichmäßig. Erst, als sie genauer hinsah, verstand sie, woran es lag: Einige kleinere der blassen Edelsteine fehlten dort. Ihre metallenen Fassungen blinkten heller als die Steine, die sie umgaben.
    „Ach“, sagte sie leise und fühlte einen schmerzhaften Stich im Innern, „das wusste ich nicht ….“ Sie deutete auf die Stelle. „Schauen Sie nur, der Rahmen ist nicht mehr vollständig. Das Material der Fassungen muss mit den Jahren schwach geworden sein. Es ist so schade, die Steine sind sehr kostbar. Lagen vielleicht welche zwischen den Brettern, als der Spiegel ausgepackt wurde?“
    Als sie aufsah, hatte die Gouvernante die Stirn gerunzelt.
    „Nein“, sagte sie, „da waren keine, soweit ich weiß.“ Sie verstummte wieder, die Falten vertieften sich. Blanka musterte sie fragend.
    „Meinen Sie, dass sie auf dem Weg verloren gegangen sind? Oh, Fräulein Sophie, das wäre nicht richtig. Lieschen sollte …“
    Sophie schüttelte langsam den Kopf. „Nein, gnädige Frau, das glaube ich nicht. Der Kasten war nur oben beschädigt, als er in die Halle gebracht wurde. Und dort konnte ja nichts herausfallen. Außerdem …“
    Sie sprach nicht weiter. Ihr Blick war seltsam in sich gekehrt. Blanka verstand nicht, was in ihr vorging. Konnte es sein, dass die Gouvernante den Verlust der kleinen Steine ebenso empfand wie sie selbst? Nein – sie hatte den Spiegel ja nie vollständig gesehen. Und er bedeutete ihr nichts; nichts im Vergleich zu dem, was er für Blanka bedeutete. Es musste Mitgefühl mit dem Verlust ihrer Herrin sein, was sie so nachdenklich machte.
    Blanka lächelte sie an.
    „Machen Sie sich keine Gedanken. Es ist ja nicht Ihre Schuld. Ich sagte schon, der Spiegel ist sehr, sehr alt. Man kann vielleicht andere finden und dort wieder einsetzen.“
    Fräulein Sophie knickste tief und zog sich dann Richtung Tür zurück. Die Klinke schon in der Hand, blieb sie noch einmal stehen.
    „Verzeihen Sie, gnädige Frau, aber wollen Sie nicht vielleicht nachsehen, ob noch mehr Steine fehlen?“
    Der Gedanke, das Tuch herunterzuziehen, den Spiegel ganz zu enthüllen, ließ Blanka eine Gänsehaut die Arme hinaufkriechen. War es Furcht? Oder etwas ganz anderes? Sie wusste es nicht; wusste nur, dass der Moment, in dem sie den Spiegel enthüllte, allein ihr gehören sollte.
    „Das werde ich“, sagte sie nur vage, „später, wenn ich Zeit dafür habe.“
    Die Gouvernante öffnete den Mund noch einmal, schloss ihn aber gleich wieder. Sie nickte nur wortlos und ließ Blanka

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