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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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Kaufmann keinen Kredit mehr bekommen konnte, stand ihm das Wasser bis zum Hals. Und die Arbeiter …
    Sie sah sie wieder vor sich, die Straßenschlachten damals, in den tiefen Schluchten zwischen den Berliner Mietskasernen. Die aufgebrachten Menschen, ihre finsteren Mienen. Hörte das rohe Gebrüll, wie von Tieren, roch den beißenden Gestank der Fackeln. Heiße Angst stieg in ihr auf. Das Gesicht des dunklen, unverschämten Marek passte nur zu gut in diese alten Bilder. Wenn es nicht gelang, wenigstens die Steine zu genügend Geld zu machen – würden sich diese Szenen dann wiederholen? Hier draußen, in der Einöde? Wo es nicht einmal einen Polizeiposten gab?
    Schritte klangen schwach von drinnen, hinter der geschlossenen Schlafzimmertür, und ihr wurde klar, dass sie immer noch im Flur stand. Sie riss sich zusammen. Niemandem würde es nützen, wenn sie Frau von Rapp mit ihren Erkenntnissen beunruhigte. Sie durfte sich nichts anmerken lassen. Die Sorge nicht – und auch nicht die Tatsache, dass sie wusste, wohin die fehlenden Steine verschwunden waren. Wenn Herr von Rapp zurückkam, würde alles sich aufklären. Und bis dahin?
    „Beten Sie, Fräulein Sophie“, hatte Anton gesagt. „Beten Sie.“
    Mit klopfendem Herzen ging sie in ihre Kammer, zog die Tür hinter sich zu. Nahm eines der Bücher von dem kleinen Tisch am Fenster; es war eine Sammlung griechischer Philosophen, mit vielen Abbildungen von Büsten und Statuen aus Berliner Museen. Sie schlug die Seiten aufs Geratewohl auf, setzte sich, ließ den vertrauten Text auf sich einströmen wie einen beruhigenden, kühlenden Luftzug. Ließ sich umfangen von den wissenden Blicken aus blinden Steinaugen. Hier war Ordnung, hier war Vernunft. Was auch immer geschehen mochte in einer Welt voller Irrsinn und Katastrophen – es gab Gründe, und es gab Lösungen. Man durfte sich von seinen Gefühlen nicht davonreißen lassen. Der Verstand musste herrschen im Haus des Körpers; auch, wenn dieser Körper weiblich war. Erst recht dann. Erst recht dann …
    Weshalb schoss ihr Willems Bild durch den Kopf, das schöne Profil, gegen den Winterhimmel gekehrt? Sie seufzte, setzte sich zurecht. Vertiefte sich in den Text und wartete darauf, dass ihr Verstand wieder die Oberhand gewann.

    Erst am Abend erlaubte Blanka es sich, wieder hinaufzugehen in ihr Schlafzimmer. Es war noch etwas Zeit, bevor Lieschen kommen würde, um ihr aus dem Kleid zu helfen – ihrem Tageskleid, denn wenn Johann nicht zu Hause war und auch kein Besuch erwartet wurde, zog sie sich zum Abendessen nicht um. Es wäre ihr lächerlich vorgekommen, das spitzenumwobene tiefe Dekolleté zu zeigen, das die Mode abends verlangte, wenn doch bloß zwei Frauen am Tisch saßen.
    Normalerweise nutzte sie diesen freien Moment, um ein wenig in der Bibel zu lesen oder in dem kleinen Andachtsbuch, das Johann ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. In ihrem Schlafzimmer fühlte sie sich ruhig, geborgen. Vielleicht lag es auch daran, dass die Fenster auf dieser Seite des Hauses von der Glashütte wegblickten, in die offene Landschaft. Nur ganz selten hörte sie hier ein leises Fauchen von fern …
    Sie nahm das Andachtsbuch kurz in die Hand, legte es gleich wieder hin, neben das braune Fläschchen mit ihrem Tonikum. Hinter ihrem Rücken knackte das Holz des Spiegels unter dem weißen Tuch. Es lockte sie, immer noch, trotz allem – das Spiegelglas. Weshalb nur? Es stimmte, was Lieschen gemurrt hatte, sie hatte nie Spiegel im Haus gehabt. Ein Winkel ihres Selbst, der bislang schlafend gelegen hatte – der alles wusste von grauen Türmen und alten Mauern und von Spiegeln –, er wisperte ihr zu: Wir wollten sie nie hier haben, die leeren Fenster ins Nichts. Es gibt keine Wahrheit in Spiegeln. Keine, die man sehen will. Und das Glas ist hart und kalt, es verletzt nur, wenn man ihm zu nahe kommt.
    Ja, flüsterte Blanka lautlos zurück. Aber jetzt ist er hier. Ich habe ihn nicht gewollt, aber er ist hier, bei mir. Ohne – Sie . Ohne Mutter. Vielleicht, vielleicht ist er jetzt –
    Dein?, spottete es in ihr. Du dummes kleines Mädchen! Haben wir denn nichts gelernt in all den Jahren?
    Mehr als genug, dachte Blanka bitter. Oh, mehr als genug.
    Sie wollte sich selbst nicht zuhören. Spürte das Locken in sich, die verhaltene Anziehungskraft, die von dem Glas unter dem Tuch ausging. Sie wusste, dass sie ihm nachgeben würde.
    Ein neues trockenes Knacken, es klang wie eine Frage. Und das Rascheln von Blankas Rock, als sie sich

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