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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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ausgereicht, einen Stecknadelkopf zu bedecken. Sie schwenkte die Tasse behutsam mit der Hand, wartete, bis die Gerüche von getrocknetem Lavendel und von Frühlingskräutern sich miteinander vermischt hatten. Dann richtete sie Johanna auf und hielt ihr die Tasse an die Lippen.
    „Trink, Liebling, trink nur. Dann wird es dir bald besser gehen.“
    Johanna schluckte gehorsam.
    „Ich kenne das“, murmelte sie dabei, „es riecht wie Sie, Mama …“
    Blanka streichelte ihr Gesicht. „Sch, sch. Trink, mein Liebling. Und nicht reden.“
    Nachdem sie alles ausgetrunken hatte, stellte Blanka die Tasse beiseite und half Johanna, sich wieder auf dem Bett auszustrecken. Als das kleine rote Gesicht sich nach ein paar Minuten plötzlich verzog, war sie darauf gefasst. Sie legte den Arm um Johannas schmale Schultern und hielt sie, bis Schwindel und Übelkeit vergangen waren. Dann streichelte sie ihre Tochter zurück in den Schlaf. Die dünnen Glieder entspannten sich unter dem schweren Federbett; Johannas Atem wurde tiefer. Blanka lauschte ihm eine Weile. Es kam ihr so vor, als ginge er ein wenig leichter als zuvor.
    Sie stand auf, glättete noch einmal Johannas Scheitel, nickte dem schlafenden Lieschen zu und ging lächelnd zurück ins Schlafzimmer, so leise, wie sie gekommen war.
    Erst, als sie die kalten Füße im warmen Bett ausstreckte, fiel ihr ein, was für ein Tag heute war. Eine wilde Hoffnung durchzuckte sie wie ein plötzlicher Sonnenstrahl aus den dichten Wolken. Johann! Er hatte versprochen, spätestens am Freitag zurück zu sein – am Zahltag für die Arbeiter nebenan. Johann würde wiederkommen!
    Aber die Hoffnung bröckelte, als sie vom Bett aus zum Fenster hinsah, auf den dichten Schneevorhang, den der Wind vor der Scheibe hin und her bewegte. So sehr viel Schnee … Und es fiel immer noch mehr vom Himmel. Verzagtheit griff wieder mit klammen Fingern nach Blanka. Das kleine Hochgefühl, das sie im Kinderzimmer gespürt hatte, verflog. Als sie wieder einschlief, bewegten sie unruhige Träume.

    Den ganzen Tag über hörte es nicht auf zu schneien. Niemand verlor ein Wort darüber. Es war wie ein stillschweigendes Abkommen zwischen ihnen, von der Hausherrin bis zum Dienstmädchen. Die Frauen wechselten sich ab an Johannas Bett, machten Halswickel, immer mehr Halswickel, weil die Jodtinktur zur Neige ging. Sprachen ein, zwei Sätze über belanglose Dinge, wenn sie sich begegneten, niemals über das Wetter. Und niemals über die Zeiger der Standuhr unten in der Halle, die beharrlich vorwärtstickten. Tickten, tickten, ohne dass auf der Straße Pferdeschnauben laut wurde, ohne dass Kutschenräder über den Schnee knirschten … Das Mittagessen schlangen sie hastig hinunter, eine lauwarme, freudlose Angelegenheit, die Frau Herrman ihnen in aller Eile zubereitet hatte, bevor sie durch die ersten, knöchelhohen Schneeverwehungen zurück ins Dorf stapfte. Sie würde an diesem Tag nicht wiederkommen.
    Für Sophie fühlte es sich wie ein Albtraum an. Das bleiche Gespenst eines Wintertages, das mit eiskalten Fingern ihr Rückgrat hinauf- und hinunterstrich, sosehr sie sich auch bemühte, es zu ignorieren. In der Stille, die sie alle wahrten, wurde es nur noch stärker. Zwei-, dreimal setzte sie zu sprechen an, als Blanka von Rapp sie oben im Kinderzimmer ablöste, damit sie sich eine Weile ausruhen konnte; zwei-, dreimal verlor sie den Mut wieder.
    Selbst Johanna, die die meiste Zeit schlief, schien das große Schweigen zu spüren. Sie lag ruhiger als sonst, warf sich nicht herum. Redete nicht mehr wirr in Fieberträumen. Sophie bemerkte es mit Erleichterung. Auf das Coupé, das dem Kind einen Arzt herbeischaffen konnte, brauchte heute niemand zu hoffen. Selbst, wenn Herr von Rapp es nach Hause schaffte – kein Arzt der Welt würde sich in diesem Schneetreiben aufmachen, um einem kleinen Mädchen den Hals anzuschauen. Aber – würde er es überhaupt schaffen? Was geschah, wenn er es nicht schaffte? Wie sehr würde er es überhaupt versuchen , nach Hause zu kommen?
    Sophie grübelte über diese Frage nach, unablässig, während sie am Krankenbett saß oder sich in ihrem Zimmer ausruhte. Als Kaufmann musste Johann von Rapp wissen, dass kein Geld im Tresor war, mit dem seine Frau die Arbeiter notfalls hinhalten könnte, wenn er nicht rechtzeitig zurückkam. Würde er es mit schneeverwehten Straßen aufnehmen, um seiner Frau zu ersparen, dass – ja, was eigentlich? Sophie wusste nicht genau, was es war, das sie

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