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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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fürchtete. Nur die Erinnerung an die Unruhen in der Stadt lauerte in ihr wie ein schlafendes Ungeheuer. Die Bilder von Rauch und Fackeln und schreiend aufgerissenen Mündern ließen sie nicht los, den ganzen Tag über nicht. Konnte Johann von Rapp sie auch sehen? Hatte er überhaupt eine Vorstellung davon, wozu die einfachen Menschen in der Lage waren, wenn man sie in die Ecke trieb? Er hatte die Glashütte von einem entfernten Onkel geerbt, war vorher wohlhabender Kaufmann gewesen. Mit der Glasmacherei hatte er sich nie wirklich befasst; soweit Sophie wusste, kümmerte der Hüttenmeister sich um alle technischen Dinge. Verstand Herr von Rapp von seinen Arbeitern so wenig wie von der Glasherstellung? Sie wusste es nicht, und es trieb sie fast zur Verzweiflung.
    Antons Gesicht tauchte vor ihr auf, die feinen, scharfen, spöttischen Züge; die Arroganz, die es immer ausstrahlte, aber auch die besorgte Müdigkeit, die es am letzten Abend gehabt hatte, als sie einander in der Halle begegnet waren. Hatte der Diebstahl der Steine überhaupt genützt? Wie lange brauchte es, bis man für so etwas einen Käufer fand? Lief Anton in diesem Augenblick noch durch die Stadt, von Juwelier zu Juwelier, die blank polierten Stiefel mit Schneeschlamm bespritzt, und suchte verzweifelt nach jemandem, der ihm die Steine abnahm? Oder wartete er an irgendeinem trockenen, warmen Ort, die Augenbrauen spöttisch emporgezogen, während sein Herr mit irgendeinem Halsabschneider verhandelte?
    Ihre Gedanken kreisten, überstürzten sich, wirbelten in Spiralen davon wie die grausamen, hübschen Flocken draußen. Es gab nichts, was sie tun konnte. Nichts, außer bei Johanna zu sitzen, einen Halswickel nach dem anderen zu machen und stumm zu warten, während es in ihr stürmte. Und das Licht draußen, das sich kaum über den Horizont gequält hatte, wurde schon wieder schwächer.

    Am frühen Nachmittag brachte Lieschen ihr den Tee hoch, in ihre eigene kleine Kammer. Sophie hatte vergeblich versucht, sich mit einem der Bücher ihres Vaters abzulenken; die kühlen, klugen Gedankenkonstrukte der griechischen Philosophen drangen heute nicht zu ihr durch. Den Großteil ihrer kostbaren Ruhepause hatte sie auf dem Stuhl neben dem Fenster gesessen und nach draußen gestarrt. Lieschen stellte das Tablett klirrend auf den Tisch.
    „Danke“, sagte Sophie müde. Sie konnte den Blick nicht lösen von den boshaften Flocken, die immer noch aus den Wolken trudelten. Hinter ihr blieb es einen Moment lang still.
    „Ach, Frollein Sophie …“
    Mit steifem Rücken drehte sie sich um. Lieschen knetete ihre Schürzenzipfel. Die schlaflosen Nächte hatten ihr Schatten ins runde Gesicht geschrieben. Sie sah Sophie hilfesuchend an.
    „Frollein Sophie, es ist man nur … Ich mag es der Gnädigen nicht so recht sagen, aber …“ Sie senkte die Stimme, bis sie nur noch flüsterte. „Es sind viele Männer heut oben bei der Hütte. Viel, viel mehr als sonst. Ich hab es gesehen, als ich hinten im Holzschuppen war. Sie haben sich ein Feuer gemacht auf dem Vorplatz, in einer alten Tonne, und sie – ich glaube, sie warten, Frollein.“
    „Jetzt – jetzt schon?“, fragte Sophie, während es in ihr kalt wurde. „Aber es ist doch noch früh …“
    Lieschen seufzte und knetete die Schürzenbänder. „Ach, Frollein, sie wissen doch oben auch, dass der gnädige Herr noch nicht zurück ist. Kann sein, dass sie sich Sorgen um ihn machen und deshalb schon alle beisammen sind, auch die, die keine Schicht haben. Vielleicht wollen sie helfen, wenn er ankommt und sie sehen, dass er Schwierigkeiten hat im Schnee. Mein Willem würde so denken. Ich kenn ihn gut.“
    Ach, dachte es in Sophie, unerwartet boshaft, und gleichzeitig durchzuckte sie die Erinnerung an das Gefühl seiner Lippen auf ihrer Hand. Sie schüttelte den Gedanken hastig ab.
    „Glaubst du das?“, fragte sie das Mädchen stattdessen. „Glaubst du, sie sind deswegen da?“
    Lieschen senkte den Blick.
    „Ich weiß es nicht“, flüsterte sie stockend. „Ich weiß es wirklich nicht, Frollein Sophie. Deshalb rede ich ja mit Ihnen. Kommt denn der gnädige Herr nicht bald zurück? Dann wäre alles gut, oder nicht?“
    Woher soll ich das wissen, du dumme Gans, wollte Sophie sie anfahren. Ich sitze auch nur hier drinnen, den ganzen grässlichen Tag, woher soll ich wissen, ob jemand kommt, der uns hilft, wenn die Arbeiter sich doch nicht aus lauter Hilfsbereitschaft da oben versammeln?
    Sie biss sich auf die Lippen,

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