Winterkind
Johann, dessen Blick so merkwürdig über den Spiegel gestreift war, als er noch unten in der Halle stand. Johann, der gleich danach Anton zu sich rufen ließ, wegen einer wichtigen Besprechung, und der am nächsten Morgen mit dem Diener ganz plötzlich wieder auf Reisen ging.
Johann.
Sie wollte die Hände vors Gesicht schlagen, wimmern, als der Gedanke sich nicht mehr abweisen ließ. In den weichen Stoff ihrer Handschuhe weinen, bis keine Tränen mehr kamen. Es war kein Entsetzen in ihr gewesen, als sie entdeckt hatte, dass ihr Schmuck verschwunden war. Jetzt – jetzt zerriss es sie beinahe.
„Wie konnten Sie das nur tun …“
Es war ihr Spiegel, ihr Spiegel ! Das einzige Erbstück ihrer Mutter, das Einzige, was sie für sich allein wollte. Ihr Eigen. Ihr Eigen ! Er hatte es gewusst, er musste es gewusst haben. Und hatte trotzdem getan, was er für richtig hielt. Ohne auch nur eine Silbe mit ihr darüber zu sprechen.
Sie schlang sich die Arme um den Leib, wiegte sich auf den Knien vor und zurück. Als könnte sie ihn so lindern, den furchtbaren Schmerz. Die harten Zinken des Kamms in ihrer Hand gruben sich durch den Stoff in ihre Haut, aber das war nichts, gar nichts, gegen das, was in ihrem Inneren wütete.
Sie hatte ihm vertraut.
Er hatte sie hintergangen.
Es gab keine Worte, keine Gedanken, die diese beiden Sätze so miteinander verbanden, dass sie einen Sinn ergaben, den sie hätte ertragen können.
Wie lange es dauerte, bis sie sich wieder aufrichten konnte, wusste sie nicht. Der Schmerz im Innern hielt sie immer noch gepackt, wollte sie nicht aus seinen Klauen lassen. Vielleicht würde er es niemals wieder tun. Erschöpft starrte sie sich selbst ins eisblasse Gesicht, das der Spiegel ihr verhalten zurückgab.
„Was soll ich nur tun“, flüsterte sie gegen das schweigende Glas. „Oh Gott, was soll ich nur tun?“
Etwas wie Wellen schien einen Herzschlag lang über ihr Spiegelbild zu laufen. Ihr Atem stockte. Bevor sie verstand, was geschah, rollte die Erinnerung aus den Tiefen des Spiegels heran, überspülte sie wie eine kalte Meereswoge. Zog sie mit sich in die Tiefen, wo die Stimme schon auf sie wartete. Die kühle, ruhige, grausame Stimme. Sie konnte ihr nicht entkommen. Nicht einmal jetzt.
Du hast sie wieder nicht ordentlich festgesteckt. Halt den Kopf oben. Jetzt dreh ihn nach links. Du sollst nicht wegzucken! Die Kämme müssen fest sitzen. Sehr fest. Wenn sie nicht an der Kopfhaut kratzen, sind sie zu locker. Willst du Strähnen um den Kopf stehen haben wie eine Fischfrau? Diese Stelle ist wieder nicht richtig ausgekämmt. Du gibst dir keine Mühe, nicht wahr? Komm her, knie dich hin. Knie dich hin, sage ich. Ich werde dir deine Zotteln auskämmen.
Spitze Zinken schienen durch ihre Haare zu fahren, ihr die Kopfhaut zu zerschneiden. Der Schmerz grub sich in sie hinein. Scharf war er und beißend und sehr kalt. Blanka hielt still, ganz still, und wehrte sich nicht.
Wage es nicht zu weinen. Du bist kein Wickelkind mehr, Blanka. Eine Frau zeigt niemals ihre wahren Gefühle. Sie beherrscht sie, was immer auch geschieht. Haltung! Wenn eine Frau keine Haltung hat, hat sie nichts, gar nichts. Und niemand wird dich trösten, wenn du weinst.
Der scharfe, kalte Schmerz drang tiefer in sie ein – wie Messerschneiden aus Eis. Wo sie sie berührten, gefroren alle anderen Gefühle. Selbst das schreckliche Wüten in ihr, das große Weh, das sie auf die Knie gezwungen hatte. Es loderte noch einmal auf und zerrte an ihr, wie ein Tier in seinem Käfig an den Gitterstäben zerrt. Dann verlosch es.
So ist es besser. Jetzt stecken wir sie neu auf. Mit einer gut und sicher gesteckten Frisur kannst du allem begegnen. Halt den Kopf oben! Sonst verrutschen die Kämme.
Ihre Hand hob sich, die Hand, die den Kamm gehalten hatte, die ganze Zeit über. Seine Zinken hatten blutige Punkte auf dem weißen Handschuh hinterlassen. Sie schob den Kamm in ihre Haare, so fest, dass sie sich beim ersten Versuch eine Strähne ausriss. Sie spürte es nicht. Sie spürte nichts mehr.
Steck sie gut fest, so fest, dass du glaubst, du könntest es nicht ertragen. Lass niemanden sehen, wie weich und verletzlich du bist. Die Männer wollen deine Haare nur ansehen, um sich vorzustellen, wie sie sich vor ihnen auf dem Kissen ausbreiten. Und wenn sie es tun, achten sie dich nicht mehr. Männer! Häng nie dein Glück an sie. Was wissen sie schon von Liebe. Was wollen sie schon von ihr wissen! Du wirst es lernen, ja, du wirst es
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