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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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lernen. Du wirst erkennen, wie sie sind.
    Der Kamm saß fest. Blanka richtete sich auf. Ihr Gesicht war glatt und weiß und zeigte keine Spuren. Sie strich sich über den Rock. Dann ging sie zur Tür, ohne sich noch einmal umzusehen.
    Mit einer gut gesteckten Frisur kannst du allem begegnen.

    Niemals in ihrem Leben hatte Sophie sich so elend gefühlt wie in jenen Minuten, als sie im Damenzimmer ihrer Herrin von Antons Diebstahl berichten musste. Als Blanka von Rapp wieder herunterkam mit sehr bleichem, sehr gefasstem Gesicht, sagte sie nur einen einzigen Satz:
    „Erzählen Sie.“
    Und Sophie wusste sofort, was sie meinte. Sie würgte an den einzelnen Worten wie an schlechtem Essen, quälte sie heraus wie Brocken von Gift. Sie stammelte und stotterte, suchte nach Erklärungen, Beschönigungen, die es nicht gab. Als Blanka von Rapp ihr irgendwann mit einer Handbewegung Schweigen gebot, verstummte sie beschämt.
    „Es ist gut, Fräulein Sophie. Es ist gut.“
    „Ich hätte es Ihnen sagen müssen“, murmelte Sophie. „Aber ich wusste nicht, wie. Und ich wollte Sie nicht beunruhigen, gnädige Frau. Bitte glauben Sie mir. Es war kein böser Wille.“
    „Nun, jetzt bin ich beunruhigt“, sagte Frau von Rapp, immer noch so erstaunlich gefasst, wie sie die ganze Zeit über ausgesehen hatte, seit sie wieder heruntergekommen war. In ihrem Gesicht bewegte sich nichts, nur der Mund, der sprach, mit einer ganz ruhigen, klaren Stimme.
    „Es ist nicht mehr zu ändern. Man hätte mit mir sprechen können – man hätte mit mir sprechen sollen. Niemand hat es getan, vor lauter Sorge, ich würde zerspringen wie eine Porzellanschale. Nun, ich zerspringe nicht, Fräulein Sophie. Ich tue, was getan werden muss. Über alles andere …“ Ihre Stimme wurde kalt. Der Klang war so ungewohnt aus ihrem Mund, dass er Sophie frösteln machte. „Über alles andere werde ich mir Gedanken machen, wenn ich die Zeit dafür finde. Jetzt habe ich sie jedenfalls nicht. Schicken Sie Lieschen zu den Männern nach oben. Der Hüttenmeister soll herunterkommen, Paulsen heißt er, glaube ich. Ich werde mit ihm sprechen.“
    „Natürlich – natürlich“, stammelte Sophie.

    Der Hüttenmeister kam; aber er war nicht allein. Als es an der Haustür klopfte und Blanka von Rapp und Sophie beide so schnell nach vorn gingen, wie es der Anstand gerade noch erlaubte, leuchtete ihnen roter Fackelschein durch die Milchglasscheibe entgegen, und Sophie hörte Stimmengewirr. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen riss Frau von Rapp ohne zu zögern die Haustür auf.
    Der leichte Wind trieb den Vorhang aus Schneeflocken in die Halle, sie bestäubten ihren Samtrock mit kühlem Geglitzer. Sie blieb auf der Türschwelle stehen, das Licht aus der Halle strömte an ihr vorbei. Die Stimmen verstummten. Minutenlang geschah nichts.
    Vorsichtig stellte Sophie sich auf die Zehenspitzen und sah ihrer Herrin über die Schulter.
    Der Vorplatz war voller Männer. Alle hatten die Mützen abgenommen. Sie erkannte Willem, Willem und – Marek. Und ganz vorn stand ein kleiner, älterer Mann, der seine Mütze in den Händen drehte.
    „Tjä, gnä’ Frau“, sagte er etwas hilflos, machte einen schiefen Diener, und Sophie begriff, dass es der Hüttenmeister sein musste. „Sie haben woll nach mir geschickt …“
    „Ja“, sagte Blanka von Rapp kühl. „Nach Ihnen, Herr Paulsen. Nicht nach der ganzen Belegschaft.“
    Ein Tuscheln ging über den Platz. Der Hüttenmeister richtete sich ein wenig höher auf.
    „Tjä, watt soll man machen, gnä’ Frau … Meine Männer warten schon den ganzen Tag. Sie kriegen allmählich Hunger.“
    „Und Durst!“, grölte jemand weiter hinten. Einige der Männer lachten. Der Hüttenmeister winkte ab.
    „Und Durst“, wiederholte er friedlich, als das Gelächter verstummt war. „Mehr Hirn könnten einige man woll auch gebrauchen, aber das ist für Geld leider nicht zu kriegen. Was das andere betrifft – nun, wir sind hier, gnädige Frau. Bereit für die Auszahlung.“
    Oh Gott, dachte Sophie. Mit dem Hüttenmeister allein hätte sie ja vielleicht reden können – ihn überzeugen zu warten, irgendetwas. Aber mit dieser Menge …
    „Ich verstehe Ihr Anliegen“, sagte Blanka von Rapp ruhig, ohne Zögern. „Aber zu meinem Bedauern kann ich ihm nicht entsprechen.“
    Wieder entstand Unruhe.
    „Was soll das heißen“, rief einer, „was ist mit unserem Geld? Das steht uns zu, gnä’ Frau!“ Es gab Sophie einen Stich, als sie feststellen musste, dass

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