Winterkind
fragte Blanka und fühlte sich jetzt ernsthaft verwirrt. „Denken Sie, weil uns gestern beim Suchen in den Kästen keines begegnet ist …? Aber wir haben ja längst nicht alle angesehen, Fräulein Sophie. Ich bin sicher, dass …“ Sie verstummte. Sophie hatte den Kopf wieder gehoben. Ihr Blick war fest und sehr müde, und es lag etwas wie eine Bitte um Verzeihung darin, die Blanka nicht verstand.
„Nein“, sagte die Gouvernante, „nein, gnädige Frau, wir werden keines finden. Ich weiß es. Von Herrn Anton. Der gnädige Herr ist in die Stadt gefahren, um Geld für die Löhne zu beschaffen. Weil keines mehr da ist, gnädige Frau. Es ist alles fort.“
Blankas Knie wurden wacklig, trotz des Korsetts. Sie fasste nach dem Pompadour.
Sophie verschränkte die Hände vor dem Schoß. Mehrmals öffnete sie den Mund und schloss ihn wieder, auf der Suche nach Worten. Aber sie schien keine zu finden.
„Es war etwas – knapp in der letzten Zeit“, sagte Blanka leise, mehr zu sich selbst, „wegen der Börsen und alldem … Knapp, aber doch nicht so knapp. Er ist ein guter Kaufmann, er würde nicht so schlecht kalkulieren, dass es nicht einmal mehr für die Löhne reicht …“
„Nein“, sagte Sophie, „das würde er sicher nicht. Aber auch der beste Kaufmann kann überrascht werden. Von – unvorhergesehenen Ausgaben.“
„Unvorhergesehenen Ausgaben?“ Blanka forschte in Sophies Miene. Die Gouvernante biss sich auf die Lippen.
„Die Beerdigung“, antwortete sie tonlos, „der Pastor, das Essen für all die Gäste, die nicht kamen … Und es gab wohl auch andere Posten, die offen waren … Gehälter … Rechnungen …“
Blanka umfasste den Pompadour so fest, dass sie den Stoff auf dem braunen Fläschchen knirschen hörte. Das war nicht möglich. Es durfte nicht möglich sein. Das Schloss stieg in ihr auf, die gewaltige Anlage, die stolzen Türme. Die Seidentapeten in jedem Raum, die kostbaren Teppiche, die Leuchter, wie Wasserfälle aus Kristall. Es war nicht möglich!
„Der Börsenkrach“, sagte Sophie, „ist auch an den Adeligen nicht spurlos vorbeigegangen, gnädige Frau. Und die Landwirtschaft leidet ohnehin seit Jahren. Ich weiß es nicht genau, ich kann nur wiederholen, was Herr Anton mir sagte. Aber ich glaube ihm, ich habe keinen Grund, es nicht zu tun. Der gnädige Herr muss geahnt haben, was da vielleicht auf ihn zukommen würde. Deshalb hat er wohl so viel Bargeld mitgenommen wie möglich. Und nichts davon mit zurückgebracht. Es – es tut mir sehr leid, gnädige Frau.“
„Wie lange wissen Sie schon davon?“ Blanka hörte einen zischenden Unterton in ihrer eigenen Stimme, der sie erschreckte. Sie schluckte, drängte den Geschmack von bitterer Galle zurück, der ihr den Mund füllen wollte. Spürte die Stäbe des Korsetts an ihrem warmen Fleisch und zwang sich, ganz ruhig weiterzusprechen. „Vergessen Sie meine Frage. Es ist nicht wichtig.“
Nein, wichtig war etwas ganz anderes. Wichtig war, dass Johann fortgefahren war und sie ohne einen Pfennig hier zurückgelassen hatte. Dass er darauf spekuliert hatte, rechtzeitig wieder zurück zu sein – spekuliert und verloren. Wie schon einmal – wie schon einmal … Zorn wollte heiß in ihr aufsteigen, ein ganz ungewohntes Gefühl, aber sie schluckte ihn hastig hinunter. Sie war seine Ehefrau. Sie durfte ihn nicht kritisieren. Ihm nicht in den Rücken fallen, nicht einmal in Gedanken. Wenn er es nicht konnte, weil das Schicksal es ihm nicht erlaubt hatte, dann musste sie einen Weg aus dieser Misere finden.
Aber welchen nur?
„Können wir den Arbeitern nicht die Wahrheit sagen?“, fragte sie. „Niemand kann etwas für das Wetter. Und es ist auch bestimmt nicht meine Schuld, dass kein Geld im Tresor liegt.“
Oh doch, wisperte eine boshafte Stimme in ihr. Es war ja deine Mutter, oder nicht? Deine Mutter, die Schulden angehäuft hat, die dein Mann jetzt bezahlen musste. Sie ist tot. Du hast ihre Schulden geerbt wie ihren Spiegel.
„Nein, natürlich nicht“, sagte Sophie. „Niemand ist schuld, es sind einfach unglückliche Umstände. Aber ich fürchte … Ich kann es Ihnen nicht wirklich empfehlen, gnädige Frau, den Männern da oben zu sagen, dass sie kein Geld bekommen werden. Zumal wir nicht genau wissen, wann Herr von Rapp denn dann zu uns durchkommen wird. Ich habe – habe die Wut der einfachen Leute erlebt, gnädige Frau …“
Sie kniff die Augen zusammen, als wollte sie dunkle Bilder verjagen. Es machte Blanka Angst, sie so
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