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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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der Rufer Willem war, nicht Marek.
    „Natürlich steht es Ihnen zu“, sagte Frau von Rapp unbewegt, „es soll Ihnen auch nicht vorenthalten werden. Aber es ist nicht hier. Herr von Rapp hat es mit sich genommen, und wie Sie sicher schon bemerkt haben, ist er bisher noch nicht zurückgekehrt.“
    Die Unruhe wurde stärker. Der Hüttenmeister Paulsen kratzte sich am Kopf.
    „Je nun, gnä’ Frau. Das ist nicht so gut.“
    „Ich kann Ihnen kein Geld aushändigen, das ich nicht habe.“ Klar und kräftig schwebte ihre Stimme über dem Tuscheln und Scharren. Blitzartig überfiel Sophie der Gedanke, dass sie sie in diesem Moment an Johanna erinnerte, Johanna, die sanfte, helle, kleine Trompete. Nur dass in Frau von Rapps Stimme jede Sanftheit fehlte.
    „Ach, kommen Sie, Gnädigste“, rief jemand aus dem rötlichen Halbdunkel. „Sie haben doch das ganze Haus voller Ringe und Ketten und Klunker! Die sind so gut wie Geld, noch besser!“
    „Ja“, sagte Marek halblaut, „so kostbare Klunker wie die Dinger an dem hässlichen alten Spiegel.“
    Sophie zuckte zusammen, aber von der Hausherrin kam kein einziger Laut. Stattdessen brachen mehrere der Arbeiter in ein wieherndes Gelächter aus, das sie nicht verstand.
    „Ich habe keinen Schmuck“, sagte Blanka von Rapp schneidend, und das Gelächter erstarb. „Wollen Sie vielleicht das Haus durchsuchen, um sich davon zu überzeugen?“
    Oh Gott, durchfuhr es Sophie wieder. Oh du mein Herrgott!
    Bei den Arbeitern rührte sich niemand. Aber Blanka von Rapp trat plötzlich einen Schritt vor und riss ihre rechte Hand in die Höhe. Die Bewegung kam so plötzlich, so unerwartet, dass mehrere der Männer zurückwichen.
    „Alles, was ich derzeit habe“, sagte sie, so kalt wie der Wind, „ist der Trauring an meinem Finger.“
    Sie hielt ihren Arm vor sich hin, in den leeren Raum zwischen den Arbeitern und dem Herrenhaus, unwirklich elegant, wie eine Dame beim Ball, die ihren Tanzpartner einlädt. Schneeflocken sanken lautlos auf ihren Ärmel nieder, auf den Handschuh, der ihre Haut bedeckte. Über dem vierten Finger wölbte sich der dünne Stoff um eine Winzigkeit. Alle Augen starrten auf diese Stelle. Die Hand zitterte nicht.
    „Mein Ehemann hat ihn mir bei unserer Hochzeit angesteckt. Das ist Jahre her. Inzwischen sitzt er so fest, dass ich ihn nicht einmal mit Seife herunterbekomme. Wollen Sie“, ihre Stimme wurde leiser, leiser und noch kälter, „wollen Sie ihn mir vielleicht mit dem Finger zusammen abschneiden, um zu Ihrem Lohn zu kommen?“
    „Oh Gott, Gnädigste“, murmelte Paulsen erschreckt und trat mehrere Schritte zurück, „so haben wir es doch nicht …“
    „Tun Sie’s, wenn Sie es fertigbringen!“
    Sophie stockte der Atem, und die Zeit schien einzufrieren. Niemand regte sich. Nur die Schneekristalle fielen weiter herab, setzten sich auf den Handschuh, bis es aussah, als wäre er ganz mit winzigen, funkelnden Edelsteinsplittern übersät. Es war das Schönste und das Eigenartigste, was Sophie seit langer Zeit gesehen hatte.
    Endlich, nach Stunden oder Jahren, brach Blanka von Rapp das Schweigen.
    „Wenn Sie es nicht können, dann gehen Sie jetzt zurück an Ihre Arbeit. Oder nach Hause zu Ihren Familien. Ich kann Ihnen nicht mehr geben als mein Wort, dass Sie Ihren Lohn erhalten werden. Früher oder später. Bescheiden Sie sich damit – oder holen Sie ein scharfes Messer.“
    Langsam zog sie ihre Hand zurück. Etwas wie ein Aufatmen ging durch die Menge. Die Männer murmelten, scharrten mit den Füßen. Keiner brüllte, keiner lachte. Keiner riss den Mund auf zu einem schwarzen, schreienden Loch. Der Hüttenmeister brummelte irgendetwas, das nach beschämter Zustimmung klang. Nach und nach zog sich die Menge zurück. Schnee knirschte unter vielen Stiefeln.
    Dann war der Vorplatz leer, und der Fackelschein wanderte langsam die Straße hinauf.
    Sophie atmete zitternd aus.
    „Sie werden heute nicht mehr wiederkommen“, sagte Blanka von Rapp und ging in die Halle. „Ich kenne die Canaille . Sie hat kein Durchhaltevermögen. Und was morgen ist … Wir werden sehen. Wir werden sehen, Fräulein Sophie.“
    „Ja“, sagte Sophie, eingeschüchtert wie ein Schulmädchen. Sie wagte es nicht einmal, darauf hinzuweisen, dass Blanka von Rapp eben einen ganzen Schritt aus dem Haus getreten war, ohne es überhaupt zu bemerken.
    Schaudernd schloss Sophie die Haustür.

Das Mädchen war nie wieder ungehorsam. Es wuchs heran, und von der Mutter lernte es all die

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