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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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unsicher.
    „Vielleicht“, sagte sie zögernd, „habe ich oben noch eine Kleinigkeit, im Schlafzimmer. Manchmal bewahre ich dort etwas Bargeld auf, für Lieferanten, und ich meine mich auch zu erinnern, dass ich nach dem letzten Besuch der von Arpstens eine Brosche erst oben abgenommen habe …“ Sie versuchte, sich zu erinnern. Der Besuch war schon ein paar Wochen her. Man bekam irgendwann nicht mehr viele Visiten, wenn man sie niemals beantworten konnte … „Warten Sie, Fräulein Sophie. Ich will gleich nachsehen.“
    Ein besserer Tag, dachte sie, während sie nach oben stieg. Ein besserer Tag? Ich kann mich bemühen, wie ich nur will. Die Dinge gehen doch ihren Gang. Und ich stehe daneben und ringe die Hände …
    Das dunkle Lachen in ihr begleitete sie die Stufen hinauf.

    Träge blinzelte ihr der Spiegel entgegen. Blanka ging an ihm vorbei, durchsuchte den Nachttisch. In den beiden kleinen Schubladen lagen Puderheftchen, Sachets mit Kopfschmerzmittel. Ein paar Pfennige in einer Emailledose. Ihr fröhliches Blinken kam ihr höhnisch vor. Was sollte sie mit Pfennigen? Sie wusste nicht, wie viel die Arbeiter eigentlich bekamen. Aber mehr als Pfennige würde es schon sein. Nur – mehr war nicht da. Kein Geld, keine Brosche. Überhaupt kein Schmuck.
    Angst stieg in ihr auf. Sie lief ins Ankleidezimmer hinüber, öffnete den Kleiderschrank. Tastete zwischen den Stoffen herum, all den Tages- und Nachmittags- und Ausgehkleidern. Zog vor allem die Empfangskleider hervor, die rüschenumwölkten kostbaren Roben mit dem tiefen Ausschnitt. Hatte sie nicht irgendwann einmal irgendetwas an einem davon vergessen? Eine winzige Schmucknadel wenigstens? Sollte denn wirklich alles fort sein?
    Sie fand nichts, auch in den Schubladen zwischen den Strümpfen und der Wäsche nicht. Aus der Angst wurde etwas wie Panik. Sie lief ins Schlafzimmer zurück, ratlos, sinnlos; am liebsten hätte sie sich auf die Bettkante sinken lassen und geweint. Johann! Was sollte sie nur tun?
    Lose Haarsträhnen kitzelten sie an den Wangen. Sie mussten bei der wirren Suche herausgerutscht sein. Blanka tastete danach, versuchte, sie wieder in die Frisur zurückzuschieben. Einer ihrer Kämme löste sich und fiel vor dem Spiegel zu Boden.
    Hastig ging sie in die Knie, so gut die Tournüre es zulassen wollte. Sie streckte die Hand nach dem Kamm aus, der dicht vor dem dunklen Rahmen lag, nahm ihn auf. Dann stockte sie.
    Ihr Blick hakte an etwas fest. Sie sah hin, starrte auf den unteren Teil des Spiegelrahmens, ohne gleich zu verstehen, was es war, das sie sah.
    Da waren die blinden Fassungen, wo einige der blassen Steine fehlten. Aber – da war noch etwas. Etwas, das sie vorher nicht bemerkt hatte. Weil sie nicht nah genug herangegangen war.
    Kratzspuren. Es waren Kratzspuren in den leeren Fassungen. Sie glänzten heller als das nachgedunkelte Metall, das sie umgab.
    Frische Kratzspuren.
    Ihre Gedanken überstürzten sich. Kratzspuren! Woher kamen sie? Wer hatte sie gemacht? Das sah nicht aus wie Schäden, die von rauen Brettern verursacht wurden, oder von einem Sturz. Die Fassungen waren an manchen Stellen verbogen, aufgedrückt und zerschrammt. Ganz so, als hätte jemand mit einem schmalen harten Gegenstand mit scharfen Kanten versucht, die Steine, die darin gesessen hatten – die Steine – herauszuhebeln …
    Sie sackte nach vorn auf die Knie, die Stahlbänder der Tournüre verschoben sich knirschend. Sie nahm es kaum wahr. Nur ihr Herz hörte sie klopfen, mit lauten, hastigen, entsetzten Schlägen. Es war nicht möglich. Es konnte nicht möglich sein. Und doch gab es keine andere Erklärung.
    Jemand hatte den Spiegel absichtlich beschädigt.
    Gesichter jagten an ihrem inneren Auge vorbei. Lieschens plumpe Miene, Antons schmales, hochmütiges Lächeln. Der Schrecken in Johannas Augen, als sie sie vor dem Spiegel entdeckt hatte – Johanna?! Nein, es war unvorstellbar. Und sie hätte ein Werkzeug bei sich haben müssen. Ein Werkzeug, und Kraft in den dünnen, zierlichen Armen … Kraft. Es kam nur ein Mann in Frage. Aber warum, um Gottes willen? Wozu? Was wollte irgendjemand mit diesen Steinen? Für wen außer ihr selbst hatten sie denn irgendeinen Wert?
    Der letzte Gedanke ließ sie zusammenzucken. Er brachte eine Erinnerung mit sich, Wortfetzen, vor gar nicht langer Zeit gesprochen. „Den Spiegel verkaufen … Morgen ist es noch früh genug, ihn hochzuschaffen …“ Wer hatte sie gesagt? Johann, mit seinem schiefen, freundlichen Lächeln.

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