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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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Ich kam nur, um mir den Wald einmal anzusehen. Aber nun habe ich …“ Er brach ab, und verwundert sah das Mädchen, dass Schamröte in seinem Gesicht aufstieg. Er schluckte. „Nun habe ich – Sie darin gefunden. Ich wusste nicht, dass Sie so – so sein können …“
    Er blickte das Mädchen an. Bewunderung lag in diesem Blick, so klar und so offen, dass es ungehörig war. Aber das Mädchen schlug die Augen nicht nieder, weil unter der Bewunderung noch etwas anderes war, etwas, das mit ihr zusammenhing und gleichzeitig viel tiefer, viel wichtiger war. Verwundbar, dachte das Mädchen staunend, ohne selbst zu verstehen, was es damit meinte. Er ist so verwundbar, wie ich es bin …
    Sie senkten beide die Köpfe und schwiegen eine Weile.
    „Geschäfte gibt es viele“, sagte er schließlich zögernd, „an allen Orten, wenn man weiß, wie man sie findet. Ich – ich könnte wiederkommen, in diese Gegend. Ich könnte es, wenn Sie es wünschen.“
    Das Mädchen wagte nicht aufzusehen. Es spürte, wie sich etwas in ihm zu regen begann, etwas Neues, Fremdes, das beunruhigend war. Beunruhigend und – und was? Das Mädchen wusste es nicht. Aber es wollte nicht, dass das Gefühl wieder verschwand.
    „Ja“, flüsterte es, ohne ihn anzusehen, obwohl es wusste, dass es das Ungehorsamste war, was ein junges Mädchen tun konnte. „Ja, ich glaube, das wünsche ich.“

Sechs
    Im fahlen Morgenlicht saß Blanka allein an Johannas Bett. Mechanisch beugte sie sich alle paar Minuten vor, um einen neuen Halswickel auszuwringen und dem Mädchen umzulegen; mechanisch richtete sie sich wieder auf und legte die Hände in den Schoß, bis es Zeit war für das nächste Mal. Die kleinen Schürfwunden an ihren Rippenbögen mussten sich im Lauf der Nacht wieder geöffnet und geblutet haben; der Stoff des Hemdes unter dem Korsett blieb manchmal hängen und löste sich nur zögernd, wenn sie sich vorbeugte. Sie empfand keinen Schmerz, obwohl sie wusste, dass die Wunden eigentlich wehtun mussten, genau wie der Rücken nach dem stundenlangen aufrechten Sitzen, wie die Beine von der harten Stuhlkante und der Kopf vom wieder fehlenden Schlaf. Sie spürte es nicht. Seit sie die winzigen Kratzspuren am Spiegel entdeckt, seit sie verstanden hatte, was sie bedeuteten, fühlte sich ihr Inneres an wie ein Stück totes Holz, mit Eis überzogen.
    Aber ihre Gedanken kreisten unaufhörlich.
    Manchmal klopfte es an der Tür, wenn Lieschen kam oder Sophie, die sie ablösen wollten. Sie schickte sie wieder fort. Sie brauchte die Stille hier oben im Kinderzimmer, das Alleinsein neben der schlafenden Johanna. Niemals zuvor war ihr so sehr bewusst geworden, dass es tagsüber im ganzen Herrenhaus keinen einzigen Platz gab, an den man sich zurückziehen konnte, wenn man ungestört sein wollte, unbeobachtet. Wenn einem so vieles durch den Kopf ging, dass man es nicht mehr fertigbrachte, darauf zu achten, dass nichts von all dem sich in den eigenen Zügen widerspiegelte. Nur hier oben und nur jetzt hatte sie einen Ort gefunden, der eine kurze Zeitlang ihr ganz allein gehörte.
    Es waren nicht die Arbeiter, über die sie grübelte. Sie bedeuteten nichts. Ihr Zorn, ihre Unverschämtheit hatten sich geduckt und waren vor ihr zurückgewichen, gestern Abend, als sie vor sie hingetreten war. Sie wusste nicht mehr, was ihr den Gedanken eingegeben hatte, den Ehering anzusprechen, die Hand so dramatisch in die Höhe zu reißen, ihre Hand, die sie doch so sorgsam versteckte. Es spielte keine Rolle. Sie hatte nichts dabei empfunden, keine Furcht, keine Scham. Nein, nicht einmal Scham, die sie sonst so fest im Griff hielt.
    Nur Kälte.

    Mochten sie wiederkommen, ihre sinnlosen Forderungen stellen. Es war nur der Pöbel, der unten ans Schlosstor hämmerte, der Plebs, der nicht mehr Entschlossenheit hatte als Spucke im Wind. Sie bedeuteten nichts, gar nichts. Sie konnten sie nicht berühren. Nichts konnte sie mehr berühren.
    Nur das Fauchen störte sie, das unterschwellige Zischen, das unablässig durch das undichte Fenster von draußen hereinströmte. Es konnte der Wind sein, der die Flocken vor der Scheibe durcheinanderwirbelte; wahrscheinlich war es der Wind. Aber darunter schien wieder jenes andere Geräusch zu liegen, das sie so oft hörte und das niemand anderes je hatte zur Kenntnis nehmen wollen: die Stimmen der Schmelzöfen aus der Glashütte, das gierige Schlürfen, mit dem die Luft ins Feuer gesogen wurde. Es war lauter geworden in der Nacht – sehr viel lauter.

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