Winterkind
Sie bekam es nicht aus dem Kopf, so sehr sie sich auch konzentrierte. Und es beunruhigte sie. Fast so sehr wie die Gedanken, die sich nicht abschütteln ließen. Die Gedanken an Johann.
Sie hatte ihm vertraut.
Er hatte sie hintergangen.
Blanka stand auf, schob leise den Stuhl zurück und trat ans Fenster. Sie schaute weit nach rechts hinüber, verdrehte fast den Hals. Aber die Werkshalle und der rote Turm verbargen sich hinter dem Schneegestöber. Es gab keine Farben. Die Welt war trübweiß und schwarz und wie erstarrt unter den tanzenden Flocken.
Nur in der Nähe der Hintertür schien sich etwas zu regen, der Hintertür, die aus einem kleinen Vorbau in den Park führte, und auf die Rückseite des Hauses, zu den Schuppen. Die Dienstboten benutzten sie gewöhnlich; sie bewahrten Gartengeräte in dem Vorbau auf, Stiefel, Ascheimer. Blanka nahm die Bewegung nur zufällig aus dem Augenwinkel wahr: ein Schemen, ein dunkler Flecken, der sich auf einen anderen dunklen Flecken zubewegte.
Blanka runzelte die Stirn, als sie erkannte, dass der eine Schemen Lieschen war, Lieschens wollenes Schultertuch, das sie sich über den Kopf gezogen hatte. Gegen den Schneewind oder gegen neugierige Blicke? Was tat sie draußen, bei dieser Kälte?
Blanka beugte sich vor und presste die Stirn gegen die Scheibe. Eine Böe rauschte am Fenster vorbei. Unten, auf dem Weg, zog sie etwas mit sich und wirbelte es durch die Luft. Etwas Kleines, Dunkles.
Eine Schirmmütze.
Die beiden Schemen begegneten sich und schienen miteinander zu verschmelzen. Helle Gesichter leuchteten auf, ein Schopf blonder Haare, aber es waren nicht Lieschens Zöpfe.
„Willem“, murmelte Blanka erstaunt.
Sie umfingen sich, nur ganz kurz, aber hingebungsvoll. Ein Körper presste sich an den anderen.
Blanka schluckte trocken. Der Anblick stieß sie ab, aber gleichzeitig berührte er etwas in ihr, kein Gefühl, vielleicht die Erinnerung an eines. Etwas, das vor langer Zeit gestorben war. Es hatte mit dem zu tun, was da draußen bei der Hintertür geschah, und mit der stickigen Dunkelheit im Schlafzimmer, wenn die rosa Marmorampel ausgelöscht wurde und die einzigen Geräusche, die man noch hörte, das Rascheln des Federbetts und heftige Atemzüge waren. Und es war doch etwas vollkommen anderes. Es hatte keinen Namen, keine Bezeichnung. Aber vielleicht hatte sie einmal gewusst, wie es hieß.
Es bewegte sich jetzt in ihr, ganz sacht. Wie die Blätter an den Bäumen, wenn der Wind durch den Wald streicht.
Der Wald …
Eine schwarze, schwere Wolke senkte sich über ihre Gedanken.
Nein, nein, nicht der Wald. Nicht der Wald. Niemals mehr der Wald.
Sie wischte das Gefühl hastig beiseite, was auch immer es war, konzentrierte sich auf den anderen Gedanken, den kalten, harten.
„Er hat mich hintergangen“, flüsterte sie gegen die Scheibe. „Ich bin ihm ganz gleichgültig.“
Unten lösten sich die Gestalten voneinander. Lieschen hielt etwas in die Höhe, eine kleine, weiße Emaillekanne. Willem griff danach, so gierig, wie er nach ihr gegriffen hatte; und gierig trank er auch, bevor er Lieschen die Kanne zurückgab und das Hausmädchen wieder an sich zog. Mochte es gestohlene Suppe gewesen sein oder gestohlener Kaffee; Blanka kümmerte es nicht. Sie nahm es kaum wahr.
Es ist nicht immer so gewesen, flüsterte es in ihr. Nicht immer so – widerwärtig …
„Genug!“, sie presste die Hände gegen die Schläfen. Abrupt wandte sie sich vom Fenster ab und ging zurück zum Kinderbett, in dem Johanna unschuldig schlief.
Sophie starrte in die endlos fallenden Flocken und verfluchte sie stumm. Sie fühlte sich furchtbar erschöpft. Stundenlang hatte sie wach gelegen, hatte auf jedes noch so leise Geräusch gelauscht. Es war schrecklich gewesen, als die Männer zum Herrenhaus gekommen waren; noch schrecklicher war es jetzt, da sie wusste, dass sie wieder dort oben in der Hütte waren und sie nicht einmal mehr ahnen konnte, was sie taten. Was sie planten. Was sie vielleicht vorbereiteten … Wenn irgendjemand gestern noch wirklich geglaubt hatte, dass Herr von Rapp bald zurückkehren und alles sich in seiner gewohnten Ordnung auflösen würde, hatte der verhangene Himmel ihn längst eines Besseren belehrt. Schnee, immer nur noch mehr Schnee. Es konnte nirgendwo mehr ein Durchkommen sein.
Sophie stützte die Hände aufs Fensterbrett. Die Stickarbeit, die sie sich vorgenommen hatte, lag längst müßig in ihrem Schoß. Sie würden wiederkommen. Die Arbeiter würden
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