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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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Front aktiver Kämpfer für den Bau eines festen Fundaments für die sozialistische Wirtschaft.«
    Die Wirklichkeit sah anders aus. Die meisten Bauern, die auf die Baustelle strömten, waren hungerleidende Flüchtlinge eines Krieges, den der junge sowjetische Staat gegen sein eigenes Volk angezettelt hatte.
    »Dieser Umstand, der entscheidende Bedeutung für die ganze Volkswirtschaft der UdSSR hat, hat der Partei das volle Recht gegeben, in ihrer praktischen Arbeit von der Politik der Einschränkung der Ausbeutungstendenzen des Kulakentums ** zur Politik der Liquidierung des Kulakentums als Klasse überzugehen«, steht im Beschluss des ZK der KPdSU vom 5. Januar 1930. Das Protokoll der Wannseekonferenz 1942, mit dem die Endlösung der Judenfrage organisiert wurde, ist bekannter – doch der Beschluss der KPdSU zur Entkulakisierung sollte sich als doppelt so tödlich erweisen.
    Einheiten der Armee wurden mobilisiert, um die Bauern von ihrem Land zu vertreiben und das »gehortete« Getreide für die Städte und den Export zu beschlagnahmen. Funktionäre des NKWD begleiteten sie, um verdächtigte Kulaken zu liquidieren – womit praktisch jeder Bauer betroffen war, der ein bisschen mehr arbeitete als seine Nachbarn oder der sich der Umsetzung auf eine Kolchose widersetzte. Die Rote Armee, die in den Schrecken des Bürgerkriegs völlig verroht war, zog brutal in den Krieg gegen die Bauern. Es kam zu Massenhinrichtungen; ganze Dörfer wurden niedergebrannt und ihre Bewohner mitten im Winter auf Gewaltmärsche oder auf Viehtransportern in Arbeitslager in der ganzen Sowjetunion geschickt. Die Deportierten wurden von ihren Wächtern »weiße Kohle« genannt.
    »Es war ein zweiter Bürgerkrieg – diesmal gegen die Bauern«, schrieb Alexander Solschenizyn in seinem epischen Werk Der Archipel Gulag , einer »künstlerischen Bewältigung« des Terrors dieser Zeit. »Es war tatsächlich der Große Wendepunkt oder, wie es auch formuliert wurde, der Große Bruch. Nur, dass uns nie jemand sagte, was da gebrochen war. Es war das Rückgrat Russlands.«
    Bis Anfang 1930, nach einem Winter des Scheinkriegs – Scheinkrieg, da die eine Seite unbewaffnet war –, war die Hälfte der Bauernhöfe der Ukraine zwangskollektiviert worden. Am 2. März 1930 veröffentlichte Stalin einen Artikel in der Prawda , der Parteizeitung, in dem er örtliche Parteikader, die »trunken vom Erfolg« gewesen seien, für Gewalt und Chaos verantwortlich machte. Tatsächlich aber waren die örtlichen Parteigenossen verwirrt und demoralisiert, die Bauern hatten scharenweise die neuen Kolchosen verlassen, und der Widerstand der Bauern gegen das System und seine Vertreter war so eskaliert, dass selbst Stalin zunächst zum Einhalten aufrief.
    Trotz der Gräuel, die überall auf dem Land begangen wurden, machten Bibikow und die anderen Parteikader, die für den Bau des großen Traktorenwerks ausgewählt worden waren, unbeirrt weiter.
    »Als die Schwalben aus den fernen, warmen Ländern zurückkehrten, als die Lerchen in der Luft jubilierten und der Boden unter der sanften Sonne auftaute, begannen in der Steppe Tausende Schaufeln zu glitzern«, schreibt der Verfasser der offiziellen Geschichte in der blumigen Sprache eines Leitartikels der Prawda . Doch die Bedingungen waren hart. Arbeiter zogen Schlitten voll frisch gestochenem Lehm, weil es nicht genügend Pferde gab – die Hälfte der russischen Pferde waren bis 1934 von verhungernden oder rachsüchtigen Bauern geschlachtet worden. Zimmerleute bauten 150 grob zusammengezimmerte Baracken für die Arbeiter. In einem behelfsmäßigen unterirdischen Brennofen wurden die ersten Ziegelsteine für den Schornstein der eigentlichen Ziegelfabrik gebrannt. Zwei Eisenbahnwaggons wurden auf den neu verlegten Schienen aufgestellt, der eine als Badehaus, der andere als mobiles Krankenhaus. Schlamm drang von unten durch die Bodenbretter der Werkstätten, und jeden Abend standen schlammverkrustete Bastschuhe vor den Baracken aufgereiht, um in der Frühlingssonne zu trocknen. Langsam wuchsen die Mauern der Fabrik aus den schweren Lehmfeldern in die Höhe, aus denen sie erbaut wurden.
    Es war ein Wunder, das in der ganzen Sowjetunion wiederholt wurde. Die gigantischen Stahlstädte Magnitogorsk im Ural und Tomsk in Sibirien wurden mitten in der Steppe errichtet; in Swerdlowsk entstand Uralmasch, eine gewaltige Schwermaschinenfabrik; in Tscheljabinsk das andere große Traktorenwerk, bekannt als TschTS, und eine

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