Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
prächtigen Wohnung in einem alten Bürgerhaus, das Bibikows Rang als aufsteigender Parteifunktionär angemessen war. Sie teilten sich die Wohnung mit Rosa und Abram Lamper, einem kinderlosen jüdischen Ehepaar. Abram war Ingenieur, Rosa eine hervorragende Köchin. Martas eifersüchtiger Verdacht, die Kinder könnten Rosas Kochkünste ihren eigenen vorziehen, war gewürzt mit dem reflexartigen Antisemitismus der Bauern.
Bibikow verschwand oft tagelang in der Fabrik; Lenina sah ihn selten. Früh am Morgen holte ihn ein offizieller Wagen ab, und spätabends kam er wieder, wenn Lenina bereits im Bett war. Doch er fand immer noch Zeit, am Wochenende bei einer wunderschönen und adeligen jungen Lehrerin Deutschstunden zu nehmen. Da Marta vermutete, ihr Mann habe eine Affäre mit seiner Lehrerin, nahm Bibikow Lenina zu den Stunden mit. Hand in Hand gingen sie zu Fuß dorthin, vorbei an der Technischen Universität. Unterwegs kaufte er Lenina Süßigkeiten. Er begrüßte seine Lehrerin mit einem Handkuss – eine unverzeihliche bürgerliche Geste, wenn sie in der Öffentlichkeit geschah. Dann gab er Lenina ein Buch zu lesen, betrat das Zimmer der Lehrerin und zog die Tür hinter sich zu.
An manchen Abenden brachte er Freunde aus der Fabrik mit nach Hause – Männer wie Potapenko, den Vorsitzenden des Parteikomitees der Fabrik, und Markitan, Parteivorsitzender von Charkow. Obwohl er weder trank noch rauchte, erinnert sich Lenina an ihren Vater als Herz und Seele der Partei. Sie beschreibt ihn als großen s awodila , einen großen »Anführer«, einen Agitator. »Ich war stolz, das Kind eines Anführers zu sein – und er war ein Anführer«, erinnert sich Lenina. »Er hatte Zauberkräfte, wenn es darum ging, Menschen zu begeistern.«
Zauberkräfte oder nicht, Bibikow scheint jedenfalls mit großem, fast schon fanatischem Enthusiasmus am Bau der großen Fabrik gearbeitet zu haben. Einer seiner Kollegen erzählte Lenina später, dass ihr Vater mit Kreide »Jungens, lasst uns den Plan erfüllen!« an die Waschraumwand geschrieben hatte, um die Arbeiter anzuspornen. Bibikow war außerdem verantwortlich für Rekrutierungsfahrten aufs Land und zu Einheiten der gerade demobilisierenden Roten Armee, um neue Arbeitskräfte anzuwerben. Auf diesen Kurzreisen in Zügen, Mietkutschen und Autos ergingen sich Bibikow und einige handverlesene Arbeiter in Lobeshymnen auf das ChTS, begleitet von Bildern in kräftigen Farben für die überwiegend analphabetischen Zuhörer. Von diesen Fahrten kam Bibikow immer schmutzig und völlig erschöpft nach Hause. Lenina erinnert sich, wie sich ihre Mutter über die Läuse beschwerte, die er sich beim Übernachten in den Hütten der Bauern holte. Sie kochte seine Unterwäsche in einem großen Emaillekessel auf dem Gasherd aus.
Die offizielle Geschichte der Fabrik wurde anonym im Jahre 1977 geschrieben. Der Verfasser, vermutlich ein Fabrikleiter im Ruhestand, war ganz offensichtlich ein Augenzeuge der bedeutsamen frühen Tage des ChTS. Eine der Heldinnen der Geschichte ist Warwara Schmel, ein Bauernmädchen, das aus einem entlegenen Dorf nach Charkow kam, um mit ihrem Bruder auf der Baustelle zu arbeiten. Ihre Zeit in der Fabrik wird zur Metapher für den Fortschritt des Proletariats unter dem Einfluss der stroika , dem Bau. Warwara, so wird berichtet, war so überwältigt vom Anblick des ersten Traktors, dass sie ihn eingehend untersuchte, bis ihre Hände und ihr Gesicht mit Maschinenfett verschmiert waren. Die Szene wurde von einem »sardonisch grinsenden jungen Mann in gelben Gummistiefeln« beobachtet, einem ausländischen Korrespondenten, der die Baustelle besuchte und zu einer Allegorie des verächtlichen Westens wurde, überzeugt von der unabänderlichen Rückständigkeit Russlands.
»Symbolisch!«, sagte der ausländische Journalist. »Das Bauernfräulein inspiziert einen Traktor. Und was passiert? Sie macht sich nur das Gesicht schmutzig. Ich sage es noch mal und werde es immer wieder sagen – der Bau der Fabrik ist ein völlig unrealistisches Projekt. Ich rate diesem Fräulein von ganzem Herzen, nicht seine Zeit zu verschwenden und lieber zu Hause – wie heißt es noch? – Schtschi zu kochen.«
Der offiziellen Geschichte zufolge kamen Menschen »aus der ganzen Union, viele auf Ruf der Partei und des Komsomol * . Diese Menschen hatten sich ihrer Aufgabe mit aller Leidenschaft verschrieben und gaben ihre ganze Kraft. Wahre Enthusiasten, das Rückgrat des Bauvorhabens, die vorderste
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