Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
September 1965. »Ihres Erachtens nach wird Gerald Brooke, der in Moskau wegen Subversion in Haft ist, gegen Lösegeld als Geisel gehalten. Doch diese Reaktion schreckt offenbar Herrn Vogel nicht ab … Montagabend wurde sein grün- und cremefarbener Opel am Checkpoint Charlie durchgewinkt ohne die sonstige genaue Kontrolle seiner Papiere. Er war auf dem Weg zu einem Treffen mit Christopher Lush im britischen Hauptquartier in Westberlin.«
Vier Tage später fuhr Mervyn im Zug Richtung Osten durch Deutschland. Die Heizung im Waggon war abgeschaltet, und im Morgengrauen passierte er vor Kälte zitternd die Wachtürme und den Stacheldraht um Westberlin. Er stieg wie immer im billigsten Hotel ab, das er finden konnte, der Pension Alcron in der Lietzenburger Straße. Mervyn rief den Anwalt Jürgen Stange an, Vogels Kontaktperson in Westdeutschland, und vereinbarte für den nächsten Tag einen Termin mit ihm. Den Rest des Tages über sah er sich Sehenswürdigkeiten in Ostberlin an. Überall Kriegsruinen, und alles war angespannt und trostlos. Später am Nachmittag ging er in den Zoo und beobachtete die Affen, die ihn düster aus ihren Käfigen heraus anstarrten.
Mervyn erklärte Stange seinen Fall in allen Einzelheiten, und dieser versprach, für den nächsten Abend ein Treffen mit Vogel zu arrangieren. Ihr Treffpunkt war die Bar Baronen, ein kleines und teures, von Geschäftsleuten frequentiertes Lokal, in dem Vogel oft auf ein Getränk einkehrte, bevor er sich auf den Heimweg in den Osten machte. Während er wartete, fielen Mervyn die extravaganten Manschettenknöpfe des hochgewachsenen Barkeepers auf, die wohl, wie er annahm, die Gäste zu mehr Trinkgeld verleiten sollten.
Vogel hatte ein rundes Gesicht, trug eine Brille und war sehr freundlich. Mervyn sprach kaum Deutsch und Vogel kein Englisch; Stange hatte erklärt, dass sich seine Fremdsprachenkenntnisse auf Latein und Griechisch beschränkten. Doch Vogel war guten Mutes und machte eine Menge optimistischer Andeutungen über die sich verbessernden Beziehungen. Er schlug vor, Mila und vielleicht noch eine weitere Person könnten gegen einen der Krogers ausgetauscht werden, was Mervyn für höchst unwahrscheinlich hielt. Doch die enthusiastische Äußerung des deutschen Anwalts ermutigte ihn.
Als Vogel sich zum Gehen erhob, sprang Mervyn auf und bot an, den kleinen Koffer zu tragen, den Vogel mit in die Bar gebracht hatte. Der Koffer war unglaublich schwer, und Mervyn konnte ihn kaum heben. Er stolperte hinter Vogel her, hievte den Koffer in seinen Opel und winkte ihm nach, als er in den Osten davonfuhr. Mervyn fand nie heraus, was in dem Koffer war, und wagte auch nie zu fragen.
Am nächsten Tag traf Mervyn Christopher Lush vom britischen Außenministerium im Hauptquartier der Westalliierten. Er bat ihn, London wegen einer offiziellen Antwort auf die Idee eines Austauschs zu kontaktieren. Lush war abweisend. »Wir wollen kein Kanal für solche Sachen werden«, sagte er meinem Vater. »Wir wollen nicht, dass alle herkommen.«
Vogel kontaktierte Mervyn nie. Er war eine weitere Sackgasse.
Bald nach seiner Rückkehr aus Berlin packte Mervyn in Oxford seine Koffer in seinen zerbeulten Ford und fuhr nach Norden, wo ihn seine neue akademische Bleibe in Log Eaton bei Nottingham erwartete. Zweifellos saß er mit ganz geradem Rücken am Steuer, Milas Ermahnung folgend, er solle »nicht so einen Buckel machen, als würde er Eimer tragen«.
Mervyn fand Long Eaton zutiefst trostlos, eine düstere Industriestadt, die ihn sehr an das Elend seiner Kindheit in Südwales erinnerte. Die Dozenten an der Universität Nottingham waren weit weniger komfortabel untergebracht, als er es von Oxford gewohnt war. Mervyn ging nicht gern in Pubs, und so blieb ihm als einzige Unterhaltung vor Ort, im Waschsalon der herumwirbelnden Wäsche zuzusehen. Nach Moskau und Oxford war Nottingham tatsächlich ein großer Abstieg, doch nun hatte er zumindest Zeit, sich ganz seinem Kampf zu widmen. Trotz eines epileptischen Anfalls im Bahnhofscafé von King’s Cross – der erste seines Lebens – beschloss Mervyn, optimistisch zu bleiben.
»Von jenem Tag an achtete ich darauf, unabhängig von Nachrichten aus Russland immer mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen ins Klassenzimmer zu gehen«, schrieb er Mila. »Ich mache mir nicht die geringsten Sorgen wegen der Zurücknahme meines Buches.« Ein Foto aus jenem Herbst zeigt Mervyn an seinem Schreibtisch in der Universität, vor ihm ein
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