Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Radio, an dessen blechernen Klang ich mich noch erinnern kann, weil er es bis in die Siebzigerjahre hinein hatte, und hinter ihm stapelweise Bücher auf durchgebogenen Regalen. Das Zimmer ist klein und eng, und er liest konzentriert einen Brief. Er sieht seltsam kindlich und verloren aus inmitten der unordentlichen Stapel seiner Besitztümer, aber recht zufrieden.
Bei einem seiner seltenen Besuche in Swansea lag seine Mutter ihm in den Ohren, er solle doch endlich seine selbstzerstörerische Fixierung auf dieses russische Mädchen aufgeben. »Heute Morgen zeigte meine Tigermutter ihre Klauen – die Katze, um die Metapher zu wechseln, lässt das Mausen nicht«, schrieb Mervyn in seinem Ford auf dem Parkplatz des Sportklubs der Universität Nottingham, wo er täglich schwimmen ging. »Sie sagt, ich sei so selten zu Hause und lasse sie so viel leiden – sie meinte, was kürzlich in Russland passiert sei, habe sie fast umgebracht. ›Und wenn ich daran denke, was mit deiner Laufbahn passiert ist, dann graust es mich‹, sagte sie. ›Sei still‹, erwiderte ich, ›sonst gehe ich sofort – das Auto steht vor der Tür.‹ Da sagte sie nichts mehr.«
Mervyn überdachte weitere Möglichkeiten. Die eine war, dass Mila einen Besuch in einem anderen sozialistischen Land beantragte, ihn dort traf und sie von dort aus irgendwie flüchteten. Das Problem war, dass Mila ein Befürwortungsschreiben ihres Arbeitgebers benötigte, um reisen zu können, selbst in ein befreundetes Land, und niemand in der Bibliothek würde es wagen, ihr eine solche Unterstützung zu geben. Sie könnte auch eine fiktive Hochzeit mit einem afrikanischen Studenten arrangieren, der sie dann mit ins Ausland nehmen könnte – doch diese Idee war nicht nur geschmacklos, sie war auch unnütz, weil man dazu die Erlaubnis des KGB brauchte, und das würde im Falle eines Scheiterns einen Schatten auf ihren Kampf werfen.
Er dachte an Bestechung. Ein neues Auto für einen korrupten Botschaftsmitarbeiter vielleicht? Doch auch das war in einem so politisierten Fall nicht realisierbar. Er prüfte sogar die Möglichkeit der Urkundenfälschung und verbrachte Tage damit, in seinem vollgestempelten Pass zu blättern und alle Details genau zu untersuchen. Er sammelte Drucksätze und experimentierte mit falschen offiziellen sowjetischen Stempeln. Zwei Freundinnen von Mervyn, Damen mittleren Alters und von größter Rechtschaffenheit, erklärten sich bereit, ihm ihre Pässe zu geben. Die eine beantragte einen Pass, obwohl sie nicht vorhatte, ins Ausland zu reisen, und die andere behauptete, ihren verloren zu haben. Doch nach einigen Tagen dämpften die Gefahren der Urkundenfälschung Mervyns Enthusiasmus. Es wäre ohnehin problematisch, eine einfache Fahrkarte aus Moskau für Mila zu bekommen, und Mila riskierte eine jahrelange Gefängnisstrafe, wenn bei der Passkontrolle entdeckt wurde, dass das Ausreisevisum, das Mervyn herstellen wollte, gefälscht war. Er ließ die Idee wieder fallen.
In einem Zeitungsartikel fand er einen Hinweis auf die Geschichte eines Russen, der vor dem Krieg beschlossen hatte, zu Fuß nach China zu gehen, sich (gründlich) in der Richtung geirrt hatte und in Afghanistan gelandet war. Mervyn sah sich Karten der südlichen UdSSR genauer an; vielleicht gab es da ja Gegenden, in denen die Grenze unbewacht war? Im Dezember 1965 las er von einem anderen jungen Russen, Wladimir Kirsanow, der zu Fuß über die russische Grenze nach Finnland gegangen war. Könnte Mila es ihm gleichtun? Mervyn spürte Kirsanow auf und traf sich im März 1966 in Frankfurt am Main mit ihm. Doch nachdem er sich Kirsanows Geschichte ein paar Minuten lang angehört hatte, wurde Mervyn klar, dass es aussichtslos sei. Kirsanow war jung und fit und ein erfahrener Wanderer und Kletterer. Mila mit ihrer verkrüppelten Hüfte wäre niemals in der Lage, durch Sümpfe zu waten und über Stacheldrahtzäune zu klettern. Auch diese Idee ließ Mervyn fallen.
Zwei Jahre waren vergangen, und die Trennung nagte an ihnen. Nottingham belastete Mervyn weit mehr, als er ohnehin befürchtet hatte. Im Sommer 1966 meinte er, näher an London sein zu müssen, um seinen Kampf fortsetzen zu können. Er nahm eine Stelle am Polytechnischen Institut Battersea an, das gerade erst die Gründungsurkunde als University of Surrey erhalten hatte und damals in einem nicht mehr genutzten Lagerhaus in Clapham untergebracht war. Er kaufte eine kleine Wohnung in Pimlico und lehnte andere Stellenangebote
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