Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
ab, weil ihm die Stelle am Battersea viel Zeit lassen würde, die sowjetische Botschaft, das Außenministerium und die Presse zu belästigen. Er hatte nie etwas anderes als Verachtung für die Universität von Surrey, ihre Studenten und ihre akademischen Standards übrig und kritisierte die Institution, in der er letztlich den größten Teil seiner Laufbahn verbringen sollte, mit einer Art verbittertem Selbsthass.
Auch Mila glitt in eine krankhafte Depression. Sie nahm ab, ihre Rippen zeichneten sich auf ihrem Brustkorb ab »wie bei einer tuberkulösen Oma«, und auf ihrem Kopf zeigten sich graue Haare. »Ohne Dich hat mein Leben aufgehört, ist versteinert – dies ist nicht einfach ein erster Eindruck, sondern eine absolut ernsthafte Schlussfolgerung, irreversibel«, schrieb Mila. »Warum bauen wir uns nicht einfach am Ende der Welt eine Hütte, fern von all dem Bösen und dem Hass und der Grausamkeit? Ich würde mich nie mehr langweilen, wenn Du da wärst. O Gott, o Gott, o Gott, unser Leiden ist doch sicher nicht umsonst? Ich sehe, wie kurz und flüchtig das Leben ist und wie dumm, wie pervers es ist, all diese Tage zu verlieren.« Mila schrieb mit eigenen Worten Konstantin Simonows berühmtes Kriegsgedicht Wart auf mich , das so eindrücklich das Schicksal von Millionen sowjetischer Frauen einfing, die dazu verdammt waren, jahrelang ohne Nachricht von ihren Liebsten warten zu müssen: »Wart auf mich, aber warte sehr. Warte, wenn dein Herz bedrückt, Regen trüb und schwer … Warte, wenn die andren längst des Wartens müd, warte …«
Während eines zufälligen Gesprächs mit einem Freund in London erfuhr Mervyn, eine Tagesreise ins sowjetische Baltikum sei eventuell auch ohne Visum möglich. Weitere Nachforschungen im finnischen Reisebüro am Haymarket ergaben, dass eine Reiseagentur in Helsinki namens Kaleva Tagesausflüge nach Tallinn in Estland und nach Leningrad organisierte, für die kein Visum erforderlich war. Sie seien eigentlich für Finnen gedacht, sagte ihm das Mädchen im Reisebüro, aber sie glaubte nicht, dass es ein Problem wäre, wenn ein Engländer eine Fahrkarte kaufte. Estland war Teil der Sowjetunion, und Mila könnte ohne Schwierigkeiten dorthin reisen.
Mervyn fand in der British Library eine Karte von Reval (dem heutigen Tallinn) von 1892 und einen deutschen Reiseführer aus der Vorkriegszeit. Er wählte den höchsten Kirchturm der Stadt aus, den der Olaikirche (Oleviste Kirik), weil er ein eindeutiger Treffpunkt war und nicht zu weit vom Hafen entfernt lag. In einer Reihe von Briefen an Mila Anfang August ließ er immer wieder Bemerkungen fallen – ob sie plane, Urlaub im Baltikum zu machen? Tallinn sei sehr schön, habe er gehört. Mervyn müsse eventuell am 26. oder 29. nach Skandinavien. Ob Mila schon von der Olaikirche gehört habe? Mila verstand die Hinweise und gab zu verstehen, dass sie da sein würde.
Der Plan war riskant. Als Mervyn am 22. August nach Finnland abreiste, hinterließ er einen Brief, der dem Außenministerium übergeben werden sollte, falls er nicht zurückkehrte.
»Ende des Monats werde ich einen oder zwei Versuche unternehmen, in die UdSSR zurückzukehren, um meine Verlobte zu sehen«, schrieb er. »Ich werde sehr wahrscheinlich versuchen, nach Tallinn zu gelangen. Dort riskiere ich, in einem sowjetischen Gefängnis zu landen … Ich möchte klarstellen, dass ich, falls ich von den Sowjets verhaftet werde, keinerlei Hilfe von Mitarbeitern des Außenministeriums in der UdSSR wünsche. Ich untersage Ihren Leuten ausdrücklich, Kontakt zu meiner Verlobten aufzunehmen. Ich hoffe, diese Aussage lässt keine Unklarheiten offen … Ich bedauere es außerordentlich, je mit Ihrem Amt zu tun gehabt zu haben, und wünsche keinen weiteren Kontakt.«
Er schickte den Brief an einen Freund mit der Bitte, ihn ans Außenministerium zu senden, falls er bis Mitte September nicht zurück sei.
Mervyn nahm einen billigen Flug nach Kopenhagen, dann die Nachtfähre nach Stockholm und eine weitere Fähre nach Helsinki. Am Morgen darauf ging er zum Büro der Reiseagentur Kaleva und buchte für Samstag eine Überfahrt nach Tallinn. Den Rest des Tages spazierte er durch Helsinki, saß auf einer alten russischen Kanone in der Festung und schrieb an Mila mit der Bitte, ihre Antworten postlagernd nach Helsinki zu schicken.
»Ich finde keine Worte dafür, wie schön es hier ist«, schrieb er. »Das offene Meer mit den weiten Buchten und Inseln, die in der Sonne lächeln, und die
Weitere Kostenlose Bücher