Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
weißen Jachten auf der ruhigen See.«
Am Freitag ging er zurück ins Reisebüro und erhielt, obwohl er kein finnischer Staatsbürger war, ohne weitere Umstände eine kleine rosafarbene Fahrkarte. Mervyn und seine Mitreisenden kamen am nächsten Morgen um neun am Südhafen an und gingen an Bord der SS Vanemuine, die eine Stunde später pünktlich ablegte.
Es war ein sonniger und stürmischer Tag, bestes skandinavisches Wetter. Schon bald nach dem Ablegen ging ein mürrisch dreinblickender Russe in dunklem Anzug herum und sammelte die Pässe in einer Kiste ein. Als Mervyn ihm seinen gab, sah ihn der Grenzbeamte in Zivil eigenartig an. Die Überfahrt dauerte zwei Stunden, und Mervyn stand die ganze Zeit über auf dem offenen Teil der Brücke und starrte über die sowjetischen Gewässer, bis die Kirchtürme von Tallinn in Sicht kamen. Als das Schiff anlegte, kam der Russe mit seiner Kiste wieder und rief die Namen der Passagiere auf, um ihnen ihre Pässe auszuhändigen. Mervyn wartete mit einem Knoten der Angst im Bauch. Doch als sein Name als Letzter aufgerufen wurde, gab ihm der Russe seinen Pass mit einem ausdruckslosen Blick zurück.
Als er den Landungssteg hinunterging, hörte er eine Frauenstimme – nicht Milas – seinen Namen rufen. Es war Nadja, Milas Nichte, und sie strahlte vor ungläubiger Freude. Sie und Mila hatten Mervyn erst am nächsten Tag erwartet, und sie war nur für einen Testlauf zum Hafen gekommen. Mila wartete an der Olaikirche. Nadja hatte nach Schlägertypen Ausschau gehalten, aber keine gesehen.
Sie gingen am Zollhaus vorbei und durch das Vortor in die Altstadt. Als sie sich der Kirche näherten, sah Mervyn auf einer Bank eine Frau mit Kopftuch und rief sie an. Zu seiner Beschämung war es nicht Mila. »Mila ist da drüben«, sagte Nadja und deutete auf eine kleine, vertraute Gestalt am Eingang der Kirche. Sie umarmten sich.
»Ich kann meine Gefühle in jenem Augenblick nicht beschreiben«, schrieb Mervyn Mila später. Selbst nach zwei Jahren Trennung fühlte er sich ihr sofort nahe, entdeckte »dieselben freundlichen Augen, das Mitgefühl, die gemeinsamen Sorgen«.
Einige wenige Stunden lang lebten meine Eltern in Tallinn das seltsame Hochgefühl gestohlener Zeit. Sie sollten eigentlich nicht dort sein; die Herrschenden der gewöhnlichen Welt hatten kategorisch bestimmt, dass sie getrennt sein sollten. Und doch waren sie dort, spazierten Arm in Arm durch die Altstadt und sprachen über die Zukunft, während Nadja ihnen in einiger Entfernung folgte und nach dem KGB Ausschau hielt. Ein winziger Spalt in der Mauer hatte Mervyn durchgelassen, und dieser kleine Sieg gab ihnen die Hoffnung, diese Stunden könnten zu einem Leben werden. Sie hätten die sechs Jahre, die ihre Trennung dauern sollte, ohne diese Augenblicke in Tallinn wohl kaum ertragen, als sie sich gegenseitig bewiesen, dass sie immer noch wirklich aus Fleisch und Blut waren, nicht nur Worte auf dem Papier, und dass sie den Kampf gewinnen konnten.
Sie tranken bei einer Freundin Milas Tee und saßen in der schwachen Sonne des Nordens auf Parkbänken. Als sie zurück zum Hafen gingen, hörten sie das Schiffshorn. Mervyn sah auf die Uhr – es war viel später, als er gedacht hatte.
Sie rannten los, Mila humpelte, so schnell sie konnte. Auf dem Schiff wurden gerade die Leinen losgemacht, doch der Landungssteg war noch nicht hochgezogen, und es blieben noch ein paar Sekunden für eine kurze Umarmung, ehe Mervyn an Bord rannte. Als das Schiff ablegte, sah er Nadja und Mila auf dem Hafenkai winken. Milas kleine Gestalt wurde immer undeutlicher, als das Schiff in die Fahrrinne fuhr. Mervyn war überwältigt von Kummer und Hoffnung.
Das Reisebüro Lomamatkat in Helsinki bot auch eine Fahrt nach Leningrad an – zwei Nächte auf See, eine in Leningrad an Bord des Schiffes. Auch hier war kein sowjetisches Visum erforderlich. Am Abend des 4. September ging Mervyn an Bord der SS Kastelholm, eines kleinen, ehrwürdigen Dampfschiffs, und machte sich auf den Weg nach Leningrad. Er bewunderte die alte Kolbendampfmaschine. Ein freundlicher Finne sammelte die Pässe ein, und Mervyn schlief besser in dem Wissen, dass keine sowjetischen Beamten an Bord waren.
Am nächsten Morgen, als er an Deck ging, entdeckte er, dass sie bereits die Newa hinauf in Richtung Leningrader Hafen dampften. Mervyn ging mit den anderen Passagieren an Land und sah Mila, die neben einem geparkten Lastwagen wartete. Sie umarmten sich nicht, um keine
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