Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
gingen sie zu Fuß zum Zentralen Telegrafenamt und schickten Mervyns Mutter ein Weihnachtstelegramm.
Am Montag gingen sie noch einmal in den Hochzeitspalast, um die Direktorin Jefremowa zu sprechen. Sie war sichtlich erschrocken, Mervyn ohne offizielle Ankündigung zu sehen. Sie murmelte etwas über die »normalen Verfahren« und schickte sie wieder weg. Aber zumindest hatte sie sie überhaupt empfangen. Mervyn rief die Botschaft an, und der diensthabende Vizekonsul schien überraschend bereit zu helfen, sobald die Botschaft am nächsten Tag aufmachte.
Am nächsten Morgen jedoch, als er aus dem Hotel National trat, spürte Mervyn stille Alarmglocken wie einen misstönenden Klang in einem Horrorfilm – die Schläger waren in voller Stärke da und beobachteten ihn scharf. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Am Nachmittag wartete an der Rezeption die Nachricht auf ihn, er solle sofort Intourist kontaktieren. Im Büro von Intourist wurde ihm mitgeteilt, sein Visum sei annulliert, und er müsse unverzüglich abreisen. Mila war verzweifelt, als sie das hörte. »Aber Merwusja, jetzt können wir nichts mehr tun«, schluchzte sie.
Um vier Uhr nachmittags wurde er noch einmal in das düstere Büro der OWIR zitiert. Der stellvertretende Leiter erwartete ihn und sagte nur einen Satz, und den zweimal: »Sie müssen Russland so bald wie möglich verlassen, noch heute oder morgen, mit dem ersten verfügbaren Flugzeug.«
Es blieb ihm nichts anderes übrig als zu gehen. Wenn der KGB unangenehm wurde, konnte Mervyn ohne Weiteres neben Brooke im Gefängnis landen, als ein nützliches Druckmittel in den Verhandlungen um die Krogers. Zum dritten Mal in fünf Monaten verabschiedete Mila ihn von sowjetischem Boden – nur diesmal muss es sich wie das letzte Mal angefühlt haben. Würde er noch einmal in Russland erwischt, dann würde das mit Sicherheit Gefängnis bedeuten.
In der Presse erschienen einige Berichte über Mervyns zweite Ausweisung. Das Außenministerium hatte ein offizielles Protestschreiben der Sowjets wegen Mervyns Besuch erhalten, doch das wussten damals weder Mervyn noch die Presse. Des Zwar kontaktierte Mervyn und bat ihn um seine Mitarbeit an einer großen Story für die People , in der es um illegale Wege nach Russland gehen sollte. Mervyn lehnte entschieden ab.
Die Berichterstattung in der Presse hatte aber eine unerwartete Folge: Mervyn erhielt einen Anruf von Derek Deason, der im Oktober 1964 aus der Sowjetunion ausgewiesen worden war und ebenfalls eine Verlobte zurücklassen musste. Mervyn schlug ein Treffen im Albert vor, einem Pub in der Nähe der Victoria Station – ein schmuddeliges Lokal, in dem ich 30 Jahre später oft verbotenerweise mit meinen Schulkameraden aus der Oberstufe trinken ging. Derek war so alt wie Mervyn und arbeitete als Waagenprüfer bei Ford in Dagenham. Er hatte ein breites, ehrliches Gesicht und war Mervyn sofort sympathisch. Während eines Urlaubs an der Schwarzmeerküste im Sommer 1964 hatte Derek Eleonora Ginsburg kennengelernt, eine russisch-jüdische Englischlehrerin aus Moskau. Sie hatten sich ineinander verliebt, und er hatte ihr einen Antrag gemacht. Sie planten die Hochzeit für Oktober. Derek kam ein paar Tage vor dem Termin nach Moskau, und da Eleonora mit ihrer Schwester in einer winzigen Wohnung lebte, beschloss er, vor der Hochzeit für ein paar Tage nach Sotschi zu fahren. In Sotschi lernte er zufällig ein paar Russen kennen, die einen Junggesellenabschied für ihn organisierten. Derek, der keinen Wodka gewohnt war, betrank sich und wurde aufsässig. Jemand rief die Miliz. Diese verfrachtete ihn in ein Flugzeug nach Moskau und dann in ein weiteres nach London. Er bekam keine Gelegenheit, Eleonora anzurufen. Sie hörte erst wieder von ihm, als er sie unter Tränen von London aus anrief. Derek hatte seither neunmal ein Einreisevisum beantragt, doch der Antrag war jedes Mal abgelehnt worden.
Mervyn fand in Derek einen beherzten und intelligenten Kampfgenossen. Sie trafen sich von da an regelmäßig im Albert und einem ruhigen Pub namens The Audley, um ihren Kampf zu planen. Im Gegensatz zu Mervyn war Derek nie mit den sowjetischen Behörden aneinandergeraten und hatte mehr durch sein Bündnis mit Mervyn zu verlieren als dieser umgekehrt. Dennoch war es für beide ein großer Trost, wenigstens einen Verbündeten zu haben. Sie gaben sich gegenseitig die Adressen von Mila und Eleonora, damit sich die beiden in Moskau treffen konnten.
In die Sowjetunion
Weitere Kostenlose Bücher