Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
zurückzugehen war zu riskant; selbst Mervyn begriff, dass er sein Glück nicht weiter herausfordern konnte. Doch der sowjetische Ministerpräsident Alexei Nikolajewitsch Kossygin wurde zu einem Staatsbesuch in London erwartet und bot ein perfektes Ziel für Mervyns inzwischen so oft geübte Lobbyarbeit. Mervyn beschloss, ihm einen Brief zu überreichen, eine althergebrachte Tradition. Er schrieb vorher an die Queen, die Kossygin empfangen sollte, und bat sie, die Angelegenheit zu erwähnen, doch er erhielt nur ein förmliches Antwortschreiben, in dem ihm mitgeteilt wurde, Ihre Majestät habe seinen Brief zur Kenntnis genommen. Er kontaktierte die Special Branch, um einen Ort und Zeitpunkt zu arrangieren, an dem er Kossygin seinen Brief ohne Aufsehen überreichen konnte. Der Beamte, mit dem er sich traf, war unverbindlich, und Mervyn musste grimmig amüsiert feststellen, dass die Special Branch ihm auf den Straßen Londons folgte. Er ging in die Downing Street und wartete auf der anderen Straßenseite der Hausnummer 10, doch Schlägertypen vom KGB drohten ihm, er solle sich fernhalten. Vor den Houses of Parliament schloss er sich einer Menschenmenge an und erzählte einem Polizeikommissar in Zivil, er plane, einen Brief zu überreichen.
»Das können Sie nicht tun«, sagte ihm der Polizist.
»Aber ich verstoße damit gegen kein Gesetz.«
»Wenn Sie aus der Menge treten«, erklärte der Kommissar und erschütterte Mervyns lebenslanges Vertrauen in die britische Polizei, »nehmen wir Sie mit auf die Wache und hängen Ihnen etwas an.«
Den dritten und letzten Versuch, sich Kossygin zu nähern, unternahm Mervyn im Victoria & Albert Museum, wo dieser mit Harold Wilson eine Ausstellung zur anglo-sowjetischen Zusammenarbeit besuchte. Wieder kam er nicht einmal in die Nähe von Kossygin. Doch als der sowjetische Ministerpräsident weggefahren wurde, stand Wilson noch einen Augenblick lang am Bordstein und wartete auf seinen Wagen. Mervyn drängte sich vor und sagte: »Was ist mit unseren Verlobten, Herr Wilson?« Wilson wandte sich um, und ein Wiedererkennen blitzte in seinen Augen auf. »Ich kenne Sie!«, sagte der Premierminister und stieg in seinen Wagen. Der Brief blieb in Mervyns Tasche.
Mervyn hatte eine neue Idee. Vielleicht konnte er ja etwas in die Hände bekommen, was für die Sowjets von Wert war und was er gegen Milas Freiheit eintauschen könnte? Vielleicht unentdeckte Manuskripte von Wladimir Lenin – unter Kennern als Leniniana bekannt – von der Art, wie sie Milas Kollegen am Institut für Marxismus-Leninismus ihr ganzes Arbeitsleben lang erwarben und übersetzten? Die Russen hatten einen unersättlichen Hunger nach Lenins Schriften aus den Zeiten, die er zwischen 1907 und 1917 in Westeuropa verbracht und in denen er eine Revolution ausgebrütet und fieberhaft mit seinen Genossen gezankt hatte. Vielleicht konnte ja einmal in Milas Leben totes Papier Leben spenden.
Mervyns Fantasie war befeuert, und er eilte in die British Library, um sich Proben von Lenins Handschrift zu besorgen. Er forderte Lenins Antrag auf einen Leseausweis an, den er unter dem Namen »Jacob Richter« gestellt hatte, studierte die Entstehung der lateinischen Schrift und machte sich Notizen zum späteren Nachschlagen, falls er je Leniniana in die Hände bekommen sollte, die zum Verkauf standen.
Als er die Dokumente in der Bibliothek wieder abgab, überlegte er, dass er vielleicht den Schlüssel zu Milas Freiheit in Händen hielt.
Mervyn durchforstete seine Kontakte unter den russischen Auswanderern nach möglicherweise unentdeckten Archiven. In Paris spürte er Grigori Alexinski auf, der im Frühjahr 1907 in der Zweiten Duma sozialistischer Abgeordneter für Sankt Petersburg gewesen war. Er hatte Lenin gekannt und mit dem russischen marxistischen Ökonomen Georgi Plechanow korrespondiert. Der Sohn von Alexinski, ebenfalls Grigori oder Grégoire, war liebenswert, Mitte 40, und arbeitete als eine Art Funktionär in Zivil für die französische Polizei oder die Sicherheitsbehörden. Mervyn führte ihn zum Essen aus.
»Zuerst haben wir zusammen einen Aperitif getrunken«, schrieb Mervyn an Mila, ohne ihr den wahren Zweck des Treffens mitzuteilen. »Dann gingen wir zum Essen in ein ›billiges‹ Restaurant (aber die Rechnung für uns beide belief sich auf fast drei Pfund!). Dazu tranken wir Wein, von dem sich mir der Kopf drehte. Danach nahm er mich mit zu sich nach Hause, wo seine Frau uns mit Tee und Kuchen erwartete. Ihre
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