Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Archiv könnten nicht von Lenin sein.
Es wurde Herbst in London, und die große Schnitzeljagd schien im Sande zu verlaufen. Mervyns Treffen mit Derek wurden immer mutloser. Die Finnen hatten ihre Ausflüge ins Baltikum eingestellt, und Besuche nach Russland kamen nicht infrage. Die Lenin-Dokumente erwiesen sich als Flop, und alle seine Brücken zum KGB hatte er gründlich hinter sich abgebrochen. Er hatte kein Geld, und das Ende der fünf Jahre, die Mervyn sich dafür gegeben hatte, Mila aus der Sowjetunion zu holen, stand drohend bevor. Die scharfe Verzweiflung ihrer frühen Liebesbriefe war einem dumpfen Schmerz gewichen; Mervyns Optimismus wurde immer aufgesetzter. Das Ende der Geschichte schien nahe.
Es gab noch eine Möglichkeit – und obwohl mein Vater es sich nicht eingestehen wollte, war es ein allerletzter, verzweifelter Versuch. Ein Freund stellte den Kontakt mit Pawel Iwanowitsch Wesselow her, einem in Stockholm lebenden russischen Emigranten, der sich selbst als »Rechtsberater« bezeichnete. Er war darauf spezialisiert, Menschen aus der Sowjetunion zu holen, und hatte bisher elf Erfolge zu verzeichnen. Seine Methoden waren unspektakulär – sorgfältige Recherchen, Kampagnen in der schwedischen Presse, Beziehungen spielen lassen, im Grunde genau das, was Mervyn bereits tat. Es war eine schwache Hoffnung, aber Mervyn hatte praktisch keine anderen Optionen mehr.
Wesselow schrieb aus Stockholm. »Ich bin eher ein Jäger als ein Kämpfer, eher ein Würger als ein Boxer«, teilte er seinem zukünftigen Kunden mit. Mervyn war beeindruckt. Und er war arm. Am Ende des Semesters nahm er ein Schiff von Tilbury nach Stockholm. Das Smörgåsbord ****** am Abend kostete 30 Shilling, und Mervyn blieb lieber hungrig, als zu bezahlen. Seine Kabine dritter Klasse hatte vier Kojenbetten und war laut und eng. Er schrieb weiter an Mila, aber über seinen Freund Jean-Michel in Brüssel, um seinen Aufenthaltsort vor den Zensoren des KGB geheim zu halten. In Stockholm bezog er das Hotel der Heilsarmee. Mervyns großer Kreuzzug war inzwischen eine recht armselige Angelegenheit geworden.
Wesselow erwies sich als zerzauster 50-Jähriger mit hohen slawischen Wangenknochen, der in einer winzigen Wohnung in einer nichtssagenden Straße in einem Arbeiterviertel der Stadt lebte. Er stellte Mervyn seine junge schwedische Ehefrau vor, die kein Russisch sprach, und dann, lebhafter, seinen schwarzen Kater Mischa. Sie setzten sich ins einzige Zimmer der Wohnung, staubig und vollgestopft mit Möbeln im russischen Stil, um zu reden.
Er erzählte Mervyn voller Bewegung von seinen Triumphen in der Vergangenheit; einer seiner größten Erfolge war sogar aus einem Gefangenenlager entlassen worden. Wesselow holte eine große Rolle hervor, die aussah wie Tapete, ging damit ans Ende des Zimmers und rollte sie theatralisch aus. Die Tapete war bedeckt mit Zeitungsausschnitten zu einem seiner Fälle. Mervyn bewunderte sein Geschick, sowohl beim Erstellen von Collagen als auch dabei, Menschen aus Russland zu holen.
Wesselow sagte wenig über sich, doch er erzählte Mervyn, er sei ein Altgläubiger, Angehöriger einer Sekte, die sich von der russisch-orthodoxen Großkirche abgelöst hatte, bekannt war für ihren Traditionalismus und in Russland jahrhundertelang verfolgt worden war. Er sagte auch, er habe im Krieg als Oberst des finnischen Geheimdienstes gedient. Mervyn hatte den Verdacht, Wesselow sei im russisch-finnischen Krieg 1939/40 von der Roten Armee desertiert. Er hatte einen schweren Wolgaakzent, rauchte starke Zigaretten, war gesellig und leidenschaftlich ehrlich. Wenn er je lügen sollte und die Presse es erführe, sagte Wesselow, würde sie nie wieder eine Geschichte von ihm annehmen. Er war auch ein begeisterter Amateurschriftsteller und arbeitete an einem Epos über das alte Rom. Seine Heldin war eine wollüstige römische Kurtisane, die, wie Mervyn fand, einer Wolgahure ähnelte. Später am Abend gönnte Wesselow Mervyn eine lange und leidenschaftliche Lesung seines Manuskripts. Immer wieder hielt der Schöpfer inne und rief aus: »Oi, Mervyn! Was für ein Mädchen! Was für ein Mädchen!« Als Mervyn in den frühen Morgenstunden endlich den Mut aufbrachte, ihn zu unterbrechen, um nach Hause zu gehen, wirkte Wesselow zutiefst gekränkt. »Oh, das genügt also, ja?«, schniefte er.
Im Juli, nach langem Schweigen, bewegte der Heilige Geist, oder vielmehr die Nachricht, dass Alexei Kossygin zu einem Staatsbesuch nach Stockholm
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