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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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und ignorierte die Erdstöße, die seine Welt erschüttert hatten. Arbeit, Schule, Auto, Datscha, Schrebergarten, Fernsehen, Wurst und Kartoffeln zum Abendessen. Russland nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erinnerte mich oft an einen Käfig voller Laborratten in einem aufgegebenen Experiment, die immer noch vergebens an den Zuckerwasserspendern nuckeln, lange nachdem die Wissenschaftler das Licht gelöscht haben und ausgewandert sind.
    Ein Teil der russischen Intelligenzija nannte es rewoluzija w sosnanii , die »Revolution des Bewusstseins«. Doch das beschrieb es nicht einmal ansatzweise. Es war keine richtige Revolution, weil nur eine kleine Minderheit sich entschied oder die Vorstellungskraft hatte, die Gunst der Stunde zu nutzen, um sich neu zu erfinden und an die schöne neue Welt anzupassen. Für die Übrigen war diese Revolution mehr wie eine leise Implosion, ein kollabierender Bovist, ein plötzliches Ineinanderschieben der Möglichkeiten im Leben, keine Revolution, sondern ein langsames Absacken in Armut und Verwirrung.

    Die meiste Zeit in Russland glaubte ich mich in einer Geschichte ohne Handlungsstrang, einer ständig wechselnden Diaschau der Phantasmagorien, die Moskau zu meiner persönlichen Erbauung auf mein Leben projizierte. Tatsächlich aber war ich gefangen im Gespinst familiärer Vorgeschichte, das sich immer enger um mich legte.
    Ich ging nach Moskau, weil ich meinen Eltern entkommen wollte. Aber genau dort fand ich sie wieder, auch wenn ich das lange Zeit nicht wusste oder nicht sehen wollte. Dies ist eine Geschichte über Russland und über meine Familie, über einen Ort, der uns geschaffen und befreit und inspiriert und beinahe gebrochen hat. Und letztlich ist es eine Geschichte über die Flucht, darüber, wie wir aus Russland geflohen sind, auch wenn wir alle – selbst mein Vater, ein Waliser, selbst ich, der ich in England aufwuchs, immer noch etwas Russisches in uns tragen, das unser Blut wie ein Fieber infiziert.

1
    Der letzte Tag
    Ich glaube nur an eines:
die Macht des menschlichen Willens.
    Josef Stalin
    Ich sprach Russisch, bevor ich Englisch sprach. Bevor ich in Mütze, Blazer und kurzen Hosen auf eine englische Prep School geschickt wurde, sah ich die Welt auf Russisch. Wenn Sprachen eine Farbe haben, dann ist Russisch das grelle Rosa der Siebzigerjahrekleider meiner Mutter, das warme Rot der alten usbekischen Teekanne, die sie aus Moskau mitgebracht hatte, das kitschige Schwarz-Gold des handbemalten russischen Holzlöffels, der in der Küche an der Wand hing. Englisch, die Sprache, die ich mit meinem Vater sprach, war das gedeckte Grün des Teppichs in seinem Arbeitszimmer, das verblichene Braun seiner Tweedjacken. Russisch war eine vertrauliche Sprache, ein privater Code, den ich mit meiner Mutter benutzte, warm und sinnlich und rau, die Sprache von Küche und Schlafzimmer. Sie roch nach warmem Bett und dampfendem Kartoffelbrei. Englisch war die Sprache der Förmlichkeit, des Erwachsenseins, des Lernens, die Sprache von »Janet and John« auf dem Schoß meines Vaters, und sie roch nach Gauloises und Kaffee und dem Motorenöl seiner Dampfmaschinensammlung.
    Meine Mutter las mir Puschkins Geschichten vor, zum Beispiel das fantastische Versepos Ruslan und Ljudmila . Die übernatürliche Welt der dunklen russischen Wälder, das lauernde Böse und strahlende Helden, heraufbeschworen an Winterabenden in einem kleinen Londoner Wohnzimmer und untermalt vom fernen Quietschen der in die Victoria Station einfahrenden Züge, war mir in meiner Kindheit unendlich lebendiger als alles, was mein Vater heraufbeschwören konnte. »Dort ist der russische Geist. Dort riecht es nach Russland«, schrieb Puschkin über ein geheimnisvolles Land am Meer, wo eine große grüne Eiche stand; um die Eiche war eine goldene Kette geschlungen, an der Kette lief eine schwarze Katze auf und ab, und im Gewirr der Äste schwamm eine Meerjungfrau.
    Am Ende des brütend heißen Sommers 1976 besuchte uns meine Großmutter Marta in London. Ich war damals viereinhalb Jahre alt, und der Rasen im Eccleston Square Garden war nach der Hitzewelle gelb und verbrannt. Glühend heiße Gehwege, der Geschmack von Erdbeereis, meine Lieblingslatzhose aus beigefarbenem Cord mit einer großen gelben Blume auf dem Bein. Ich erinnere mich an die Korpulenz meiner Großmutter, ihren modrigen russischen Geruch, ihr weiches, rundes Gesicht. Auf den Fotos sieht sie immer aus, als sei ihr unwohl. Groß und ärgerlich und männlich hält

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