Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
sie mich wie einen zappelnden Sack, und meine Mutter lächelt nervös. Sie machte mir Angst, wenn sie unvermittelt losschimpfte, mit ihrer Unberechenbarkeit, ihrer spürbaren Anspannung. Sie saß oft stundenlang da, allein und still in einem Sessel am Wohnzimmerfenster. Manchmal schob sie mich weg, wenn ich auf ihren Schoß klettern wollte.
Eines Nachmittags waren wir auf dem Eccleston Square. Meine Mutter plauderte mit anderen Müttern, meine Großmutter saß auf einer Bank. Ich spielte Räuber und Gendarm mit mir selbst, ausgerüstet mit einem Polizeihelm aus Plastik und einer Cowboypistole, und rannte im Park herum. Ich schlich mich von hinten an meine Großmutter heran, sprang dann hinter der Bank hervor und versuchte, ihr Handschellen anzulegen. Sie saß reglos da, während ich mit dem Verschluss der Handschellen kämpfte, und als ich aufblickte, weinte sie. Ich holte meine Mutter, und dann saßen sie lange Zeit beisammen. Ich versteckte mich in den Büschen. Dann gingen wir nach Hause, und meine Großmutter weinte immer noch still.
»Sei nicht traurig«, sagte meine Mutter. »Oma weint, weil die Handschellen sie an die Zeit erinnern, als sie im Gefängnis war. Aber das ist lange her, und jetzt ist alles gut.«
Die meiste Zeit ihres Lebens lebte meine Mutter für eine imaginäre Zukunft. Ihre Eltern kamen ins Gefängnis, als sie drei war. Von da an übernahm der sowjetische Staat ihre Erziehung und formte ihren Verstand – nicht aber ihren Geist – nach seinen Vorstellungen. Ein strahlender Morgen warte hinter dem Horizont, erzählte man ihrer Generation, aber damit er kommen könne, müsse wie bei den Azteken Blut vergossen werden, und der Einzelne müsse sich der großen Sache opfern. »Einfache sowjetische Menschen sind überall und vollbringen Wunder« ist ein Satz aus einem beliebten Lied der Dreißigerjahre, den meine Mutter oft zitiert, immer voller Ironie, wenn sie sich bürokratischer Dummheit oder Grobheit ausgesetzt sieht. Doch in einem tieferen Sinne prägte die Vorstellung, der Einzelne könne jedes noch so große Hindernis überwinden, ihr Leben.
Ihr Vater Boris Bibikow glaubte das auch. Er inspirierte – und terrorisierte – Tausende Männer und Frauen so, dass sie eine gewaltige Fabrik buchstäblich aus dem Schlamm errichteten, auf dem sie stand. Meine Mutter ihrerseits vollbrachte ein kaum weniger bemerkenswertes Wunder. Gewappnet mit nichts als ihrer unerschütterlichen Überzeugung trat sie gegen das Ungeheuer des sowjetischen Staates an und gewann.
Ich sehe meine Mutter nie als kleine Frau, obwohl sie winzig ist, gerade mal 1,50 Meter groß. Aber sie hat einen gigantischen Charakter; die kinetische Energie ihrer Gegenwart füllt ganze Häuser. Ich habe sie oft weinen sehen, aber nie ratlos. Selbst in ihren schwächsten Momenten zweifelt sie nie an sich selbst. Sie hat keine Zeit für Nabelschauen, für das maßlose Leben, das meine Generation führt, obwohl sie bei all ihrer eisernen Selbstdisziplin auch bereit ist, bei anderen großzügig über Fehler hinwegzusehen. Schon in meiner frühesten Kindheit beharrte meine Mutter darauf, man müsse um alles im Leben kämpfen, und jedes Scheitern sei vor allem ein Scheitern des Willens. Ihr Leben lang stellte sie kompromisslose Forderungen an sich selbst und genügte ihnen auch immer. »Wir müssen uns ihres Glaubens an uns würdig erweisen, wir müssen kämpfen«, schrieb sie an meinen Vater. »Wir dürfen es uns nicht erlauben, schwach zu sein … Das Leben kann uns schon im nächsten Moment niederschmettern, und niemand wird uns schreien hören.«
Sie ist auch unglaublich schlagfertig und intelligent, doch diese Seite erlebe ich an ihr nur, wenn sie in Gesellschaft ist. Beim Abendessen mit Gästen ist ihre Stimme klar und einfühlsam, und sie formuliert ihre Ansichten mit altmodischer Bestimmtheit in rollendem Englisch.
»Alles ist relativ«, sagt sie beispielsweise schelmisch. »Ein Haar in einem Teller Suppe ist zu viel, ein Haar auf dem Kopf ist nicht genug.« Oder sie erklärt: »Das Russische hat so viele reflexive Verben, weil die Russen pathologisch unverantwortlich sind! Im Englischen sagt man ›ich will‹, ›ich brauche‹. Im Russischen heißt es ›der Wille ist aufgekommen‹, ›der Bedarf ist entstanden‹. Die Grammatik ist der Spiegel der Psychologie! Der Psychologie einer infantilen Gesellschaft!«
Wenn sie spricht, springt sie mühelos von Nurejew zu Dostojewski, zu Karamsin und Blok. Ihr abschätziges
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