Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Frachtern vor Anker.
Ich denke, dass ich verschiedentlich im Leben zumindest Echos dieser verschwundenen Welt der Kindheit meines Vaters erlebt habe: als ich an einem nebligen Abend 1993 durch eine elende Bergwerksstadt in der Slowakei fuhr, wo die feuchte Luft nach Kohle und gebratenen Zwiebeln roch; zwischen endlosen rostigen Kränen und Frachtern im Hafen von Leningrad, wo vom Finnischen Meerbusen beißend kalter Wind hereinfegt und den Geruch von rostendem Stahl und das Klappern von Metall auf Metall mit sich bringt.
Und dann war da noch die Woche in Tscheljabinsk, einer Industriestadt im südlichen Ural, die ich in Begleitung von Bergleuten verbrachte, muskulösen Männern mit Schnurrbärten und schmierigen Gesichtern, die mit grimmiger Entschlossenheit tranken und wenig sagten. Ihre Frauen sahen erschöpft aus, kämpften mit verschmiertem Lippenstift und herausgewachsener Dauerwelle darum, den Schein zu wahren. Solche Bilder bevölkern mein Bild von Südwales während der Weltwirtschaftskrise. Ein Ort, stelle ich mir vor, an dem jeder nur eine winzige und kostbare Portion Glück bekam, die er mit einem Leben voller Schinderei bezahlte.
Mervyns engste Familie war arm, aber ehrbar. Verzweifelt hielt sie am kleinbürgerlichen Leben fest und wahrte mit allen Mitteln den Schein. Irgendwann um 1904 herum ging mein Urgroßvater Alfred mit seiner Familie zum Fotografen und ließ ein förmliches Familienfoto anfertigen, das genau die Umstände der Familie widerspiegelt. Auf der Daguerreotypie ist Alfred vom Scheitel bis zur Sohle der edwardianische Familienvater, in seinem strengen schwarzen Anzug und mit goldener Uhrkette. Sein Sohn William und seine Tochter Ethel sind mustergültig, er in einem übergroßen Matrosenkragen, sie in einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid und schwarzen Strümpfen. Aber seine Frau Lillian sieht blass und ungesund aus, und die schweren Stühle und die Schusterpalmen, die die steife Gruppe als Requisiten einrahmen, sind nobler als alles, was sie je zu Hause hatten. Das riesige Foto, teuer handkoloriert und gerahmt, thronte über Mervyns bescheidenem jungem Leben in dem winzigen Haus, in dem er mit seiner Mutter und Großmutter im Stadtteil Hafod in Swansea lebte. Es war wie eine Mahnung an den unaufhaltsamen Niedergang der Familie.
Der Vater meines Vaters, William Alfred Matthews, arbeitete am Hafen. Er war dafür zuständig, die Ladung eines Frachters so zu vertäuen, dass sie sich bei Seegang nicht verschieben konnte. Die sogenannte Trimmung erforderte, wenn auch auf bescheidene Weise, eine gewisse Fertigkeit. Es war eine schmutzige Arbeit, aber zumindest nicht auf der untersten Stufe der sozialen Leiter. Auf der standen die Hilfsarbeiter, die mit nacktem Oberkörper und bis zu den Knien im Kohlenstaub Kohle schaufelten.
William Matthews scheint nicht den geringsten Ehrgeiz gehabt zu haben. Alles, was ihn im Leben zu interessieren schien, war, im Working Men’s Club mit seinen Kameraden aus den Schützengräben seinen Lohn zu versaufen. Er war im Ersten Weltkrieg fünfmal verwundet worden. Doch wie viele seiner Generation stand er nach dem Krieg mit leeren Händen da. Geblieben waren ihm der Suff, ein paar Orden und der Respekt seiner Kameraden im Comrades’ Sick Club, einer Art Krankenversicherungsgesellschaft. Zum Dank für seine Dienste als Sekretär der Gesellschaft erhielt er 1932 eine billige Kaminuhr, die heute noch im Arbeitszimmer meines Vaters tickt. Deutsches Senfgas an der Somme hatte seine Lunge angegriffen, doch das hinderte ihn nicht daran, schachtelweise Player’s Navy Cut zu rauchen.
Mein Großvater war ein attraktiver Mann und sehr auf sein Äußeres bedacht. Er trug immer einen gut sitzenden Dreiteiler und die schwere goldene Uhrkette, die sein Vater ihm vermacht hatte, verziert mit einem Sovereign in einer pompösen goldenen Halterung. Als er 1964 starb, befanden sich unter den wenigen Dingen, die er seinem Sohn hinterließ, seine Taschenkalender, in denen er die Tage angestrichen hatte, an denen er seine Mätressen im Swansea Park traf.
Er vernachlässigte seinen Sohn Mervyn und ertrug das Leben mit seiner Frau Lillian nicht. Er interessierte sich kaum für die Schulausbildung seines Sohnes und las in seinem Leben kein einziges Buch. Die Kulturlosigkeit seines Vaters war Mervyn zutiefst zuwider; vielleicht war das auch einer der Gründe, warum er so wissbegierig und auf Bücher versessen war. Ab und an behauptete William willkürlich seine väterliche
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