Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Konnowa mit ihren zwei Kindern und ihrem alternden Vater endlich eine eigene Wohnung zugewiesen; sie zogen aus einem winzigen Sieben-Quadratmeter-Zimmer in einer kommunalka am Starokonjuschenny-Pereulok in der Nähe des alten Arbat aus. Ljudmila bewarb sich um das Zimmer und zog schließlich ein. Es war winzig, aber es war ihr Zuhause. Sie war 26 Jahre alt und hatte zum ersten Mal in ihrem Leben einen Raum, der ganz und gar ihr gehörte.
Ljudmila (rechts) mit ihrer Freundin Galina Golowister 1962 in Ljudmilas Zimmer in der Starokonjuschenny-Pereulok. Das Foto machte der ostdeutsche Ehemann einer befreundeten Balletttänzerin.
**** »Für Ljudmila, in Erinnerung an die Sonne von Moskau.«
8
Mervyn
Im Auge Traum …
Und alles andre mit sich selbst verhängt
und ausgelöscht als ob wirs nicht verständen
und tief aus seiner eignen Tiefe trüb.
Du schnell vergehendes Daguerreotyp
in meinen langsamer vergehenden Händen.
Rainer Maria Rilke
Das Arbeitszimmer meines Vaters hat mich immer schon fasziniert. Es liegt im ersten Stock des schmalen viktorianischen Hauses in Pimlico, in dem ich aufgewachsen bin. Es roch immer nach französischen Zigaretten und Darjeelingtee und war erfüllt von Bach-Kantaten und Händel-Opern. Heute erscheint mir der Raum klein, doch in meinem Kopf ist er immer riesig, gesehen aus der Perspektive eines Siebenjährigen, der sich um den ehrwürdigen Sessel des Vaters herumtreibt und zu den hohen Bücherwänden aufblickt. Das Kavallerieschwert über dem Kaminsims und die Dampflokomotivensammlung zeugten von einer überwältigenden Männlichkeit. Die Schubladen voller Teleskope, Kompasse, Familienfotos und Kinkerlitzchen waren ein verbotener Schatz. Noch als Jugendlicher, als mein Vater und ich uns fremder wurden, war ich fasziniert von seiner Vergangenheit, über die er nie sprach und deren Zugangsschlüssel untrennbar mit dem Rätsel seines Arbeitszimmers verbunden schien.
Ljudmila in den Ferien in Nordrussland, 1965.
Einmal, da war ich ungefähr 16, fand ich einen Stapel Fotos von meinem Vater, als ich verbotenerweise in seinen Schreibtischschubladen wühlte. Die Bilder zeigten nicht den Vater, den ich kannte, sondern einen überraschend cool aussehenden jungen Mann in einem knappen Sechzigerjahreanzug und mit einer Sonnenbrille à la Malcolm X. Auf einem Foto spaziert er auf einer sonnenbeschienenen Meerespromenade. Andere Fotos zeigen ihn im schweren Mantel auf einem riesigen zugefrorenen See, zwischen Wassermelonenständen auf einem pittoresken Marktplatz in Zentralasien, entspannt und selbstbewusst in einem Restaurant am Meer, umgeben von hübschen Mädchen. Auf der Rückseite jedes Fotos stand in seiner ordentlichen Schrift, wann und wo es aufgenommen worden war.
Später an jenem Tag fragte ich meinen Vater, vielleicht weil ich ihn mit dem Geständnis meiner dreisten Invasion in seinen heiligen Schreibtisch provozieren wollte, was er 1961 in Buchara und am Baikalsee gemacht habe. Er sah weg, lächelte dünn – wie so oft – und setzte sich in seinen Sessel.
»Ach«, sagte er unverbindlich und goss sich durch ein Sieb Tee ein. »Baikal? Da hat mich der KGB hingebracht.«
Mein Vater wurde im Juli 1932 in einem winzigen Reihenhaus in der Lamb Street in Swansea geboren. Er wuchs in einer Welt der Kohleöfen, unbeheizten Schlafzimmer, unbenutzten Wohnzimmer voller schwerer Möbel, streitbarer Frauen und saufender Männer auf. Ich war als Kind ein paarmal in der Straße, immer an windigen Tagen, wenn ein grauer Himmel Nieselregen ausspuckte und die Straßen leer waren. Swansea ist für mich immer erfüllt von schmutziggelbem Licht, irgendwie giftig und schwer. Der Meereswind trägt aus der Bucht von Swansea den Geruch von Salz und Öl heran. Die Straßen sind einfarbig, so wie auch das menschliche Fleisch: überall schwere, konturlose, talgfarbene Gesichter.
Südwales wirkt heute wie eine vom Meer angespülte Stadt, hässlich und ihrer selbst nicht sicher, schmutzig und aufgeblasen nach etlichen Generationen Schinderei und Rauch. Doch als mein Vater Kind war, war das anders. Swansea war einer der wichtigsten Kohlehäfen Englands und die gigantischen Schiffe, die dort anlegten, die Pulsadern des größten Weltreichs der Erde. Mein Vater wuchs in den letzten bedeutenden Jahren einer großen viktorianischen Hafenstadt auf. Rülpsende Dampfmaschinen bewegten die Förderkörbe, und im Hafenbecken lagen noch ein paar schöne alte Schoner zwischen den großen Linienschiffen und
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