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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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Selbstmitleid und Unglücklichsein.
    »Meine Kindheit erscheint mir wie ein Spiegel Deiner Kindheit, meine Universitäten waren wie Deine Universitäten, meine Gedanken Deine Gedanken, Deine Zweifel und Ängste das Abbild meiner Zweifel und Ängste«, schrieb ihm Mila 1964. »Ein körperlicher Defekt und geistige Überlegenheit über Deine Altersgenossen (weißt Du noch, wie Du im Sport glänzen wolltest und dann stattdessen Klassenbester wurdest?) – alles in unserem Leben war ähnlich, identisch, selbst unsere Krankheiten.«
    Schon bald nach seiner Zeit im Krankenhaus begann Mervyn, sich für Russisch zu interessieren. Für ein Arbeiterkind aus den südwalisischen Tälern, das nie weiter als bis nach Bristol gekommen war, war dieses Interesse, gelinde ausgedrückt, exzentrisch. Wenn ich ihn heute nach der Entscheidung frage, die sein Leben bestimmen sollte, fällt ihm kein anderer Grund ein als der, dass Russisch »das Exotischste war, was mir einfiel«. Russisch war die Sprache eines Universums, das absolut nichts mit seinem Leben im Hafod Uchtryd zu tun hatte.

    Es fällt heute nicht leicht, den Kalten Krieg beiseitezulassen und sich vorzustellen, was Russland 1948 für einen empfindsamen Schuljungen bedeutet hat. In den USA hatte das Komitee für unamerikanische Umtriebe gerade begonnen, die kommunistische Infiltration Hollywoods zu untersuchen, und eine wahre Hexenjagd eingeleitet. Doch in Großbritannien waren die Meinungen vielschichtiger, vor allem in einer Arbeiterstadt wie Swansea, wo Gewerk und Sozialismus Hand in Hand gingen. Nur wenige Kilometer von Swansea, in den Kohlebergwerken von Rhondda, war Harry Pollitt, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Großbritanniens, eben fast ins Parlament gewählt worden. In William Matthews’ Comrade’s Sick Club gab es jede Menge Kommunisten, die noch nicht mitbekommen hatten, dass Onkel Joe Stalin, der noch vor wenigen Jahren ein Verbündeter gewesen war, nun auf der anderen Seite stand.
    Doch wie der gerade abgewählte Premierminister Winston Churchill in einer Rede in Fulton, Missouri, formulierte, hatte sich ein »eiserner Vorhang« quer über Europa gesenkt. Die Sowjetunion entwickelte sich unter den Augen ihrer einstigen Verbündeten rasend schnell zu einem dunklen, bedrohlichen Ort. Und als der Atomwissenschaftler Igor Kurtschatow am 29. August 1949 in Semipalatinsk – dem gottverlassenen Teil der kasachischen Steppe, in dem Marta Bibikowa 1938 ins Lager kam – Russlands erste Atombombe zündete, wurde die Sowjetunion ein sehr realer und unmittelbarer Feind. Die Kultur und das Land, das den jungen Mervyn so faszinierte, waren in jeder Hinsicht fremdartig.

    In meiner Kindheit waren Russland und der Kommunismus Synonyme für eine allgegenwärtige Bedrohung. Die Einzige, die dagegen protestierte, war unsere schwerfällige ältere Nachbarin Vicky. Sie war der erste Mensch außerhalb meiner Familie, den ich je Gutes über Russland sagen hörte. Sie wohnte um die Ecke in einer Sozialwohnung, hatte einen Damenbart und wusch sich nicht sehr oft (obwohl mir auffiel, dass ihr bitterer Geruch ganz anders war als der Geruch nach Hormonen und Essen, den russische alte Damen verströmten). Vicky brachte mich manchmal zur Schule, und auf dem Weg erzählte sie mir spannende Geschichten von »Milchflaschenbomben« – Brandbomben in der Form altmodischer Milchflaschen mit breitem Hals –, die im Krieg auf London fielen. Sie erzählte mir auch, wie ihr Vater in einem Konvoi der Alliierten amerikanische Lebensmittel nach Murmansk gebracht hatte und von einem U-Boot torpediert worden war. Er war Heizer gewesen, und ich erfuhr fasziniert, wie er erst vom kochenden Wasser der berstenden Heizkessel verbrüht wurde und dann im eiskalten Meer fast erfror. Ich war überzeugt, beides würde sich aufheben und warmes Badewasser ergeben.
    »Die Roten«, erklärte Vicky mit schriller Stimme und schwerem Cockney-Akzent, »die warn gut zu meinem Daddy. Da sag mir keiner was gegen die.«
    Meine Schulkameraden sahen das anders. Die Erkenntnis, dass die Russen Feinde waren, Rote, Kommunisten, kam einigen meiner Freunde und breitete sich mittels jener seltsamen Osmose aus, mit der sich Kindheitsgrausamkeiten vervielfachen. Als ich etwa sieben war, beschuldigte mich jemand in der Schule, ein »Roter« zu sein, und wollte wissen, wann wir unsere Panzer aus Afghanistan abziehen würden. Als ich protestierte, ich sei kein Roter, wurde ich als Lügner beschimpft und, schlimmer noch,

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