Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
ihren Tisch näher an die Tür geschoben, um sich warm zu halten. Mervyn fragte, ob die Heizung bald angeschaltet würde. »Das Hotel ist ganz neu«, sagte die Rezeptionistin, beleidigt durch die Zimperlichkeit des Ausländers. »Und die Aufzüge funktionieren nicht. Sie müssen die Treppe nehmen.« Sie gab ihm ein Zimmer im obersten Stockwerk.
Als er seinen Koffer die Treppe hinaufzerrte, bemerkte Mervyn ein vertrautes Paar Beine, das die Treppe herunterkam. Wadim war offensichtlich ganz zufällig geschäftlich in Buchara. Und es kam noch besser: Er hatte an dem Tag sogar frei und konnte Mervyn in einem offiziellen Wagen eine Rundfahrt durch Buchara bieten. Am Abend richtete außerdem ein russischer Freund Wadims eine kleine Willkommensparty in seinem Haus in einem Vorort aus. Wadim verkündete stolz, es würden dort auch Mädchen sein.
Nach einem langen Tag voller Besichtigungen, die für Mervyns Geschmack viel zu oberflächlich ausgefallen waren, machten sie sich über unasphaltierte Straßen auf den Weg in die Vororte der Stadt. Das Haus von Wadims Freund lag in einem alten russischen Viertel mit traditionellen Holzhäusern, die sich deutlich von den aus Ziegelstein erbauten usbekischen Wohnhöfen unterschieden. Wolodja, ihr Gastgeber, begrüßte sie herzlich und versorgte sie ausgiebig mit Wodka. Sie aßen Truthahn, den größten, den Mervyn je in Russland gesehen hatte, und tanzten zur Musik von alten amerikanischen Schallplatten. Wie sich herausstellte, wohnte Nina, eines der drei Mädchen auf der kleinen Party, im selben Hotel wie Mervyn und Wadim. Sie gingen zusammen im Mondschein nach Hause und verabschiedeten sich im Foyer.
»Kommst du nachher auf mein Zimmer?«, flüsterte Mervyn, als Wadim sich der Treppe zuwandte. Nina drückte seine Hand.
Mervyn, ein bisschen beschwipst, machte sich auf den Weg den Flur entlang zu seinem Zimmer. Das Licht brannte, jemand war darin. Wer es auch war, er hatte ihn die Treppe heraufkommen hören und öffnete nun die Tür. Das Licht fiel von hinten auf ihn, und Mervyn konnte sein Gesicht nicht erkennen und verlangte zu wissen, was er wolle. »Haben die Leitungen repariert«, sagte der Mann gelassen. »Aber wir sind fertig.«
Als die Männer weg waren, ließ Mervyn sich schwer auf das Bett fallen. Selbst hier, mitten in Zentralasien, war ihm der KGB auf den Fersen. Mervyn bemerkte zwei leere Gläser auf dem Tisch. Geheimpolizisten genehmigten sich offenbar gern einen bei der Arbeit.
Mervyn zog sich schnell aus und legte sich vor Kälte zitternd ins Bett. Es klopfte leise an der Tür. Mervyn dachte, es sei Wadim, stand auf und öffnete. Es war Nina. Sie schob ihn verspielt ins Zimmer zurück. Er schob sie wieder hinaus. Ein Vergewaltigungsskandal war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte; er stellte sich vor, wie Ninas ungeschickte Umarmung zu einem Ringergriff wurde und draußen vor der Tür schon Hilfe bereitstand, wenn sie schrie. Er kletterte allein in sein eisiges Bett.
Die Staatliche Universität Moskau ist das größte von Stalins gigantischen Hochhäusern, die Moskaus Skyline wie ein Ring wachsamer Geier beherrschen. Mit 36 Stockwerken war es damals außerdem das höchste Gebäude Europas. Auf der weitläufigen Terrasse vor dem Gebäude stehen riesige Statuen muskulöser männlicher und weiblicher Studenten, die selbstsicher von ihren klobigen steinernen Büchern und Ingenieursgeräten in eine strahlende Zukunft blicken. Oxfords planlose Kolleghöfe aus Sandstein waren fern.
Die Universität quartierte Mervyn im »Hotelflügel« ein, der sich allerdings von den übrigen 5000 Zimmern der Universität nur dadurch unterschied, dass Gästen im Gegensatz zu gewöhnlichen Studenten und Dozenten der Luxus einer Putzfrau gewährt wurde. Das Zimmer war klein und mit einem Schlafsofa, einem Schreibtisch und einem Einbauschrank ausgestattet. Das überdimensionale Fenster, dessen Größe durch die monumentale Fassade vorgegeben war, stand in keinem Verhältnis zur Größe des Zimmers.
Trotzdem war Mervyn überglücklich, dort zu sein. Die Universität war die Antithese zu seinem abgeschirmten Leben als Diplomat – diesseitig und durch und durch sowjetisch. Vor allem aber war Mervyn deutlich freier als in seiner Zeit bei der Botschaft. Natürlich standen Funkwagen des KGB draußen vor der Tür, immer bereit, Ausländern, die das Gebäude verließen, zu folgen. Doch die Überwachung erfolgte gnädigerweise nur sporadisch, und seine Mitstudenten waren zwar immer
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