Winterland
hier eigentlich?«, fragte er jetzt. »Warum bist du hergekommen?«
»Das weißt du …«
»Ich meine, hierher zu Anna«, unterbrach er mich. »Was hast du hier zu suchen?« Jetzt klang er wirklich anders, als wenn er die Seelen ins Haus des Herrn einlud. Hier war er ein Mensch, ein armes und sündiges Menschlein, das mit einer schönen Frau allein sein wollte. So gefiel er mir besser.
»Möchtest du, dass ich gehe?«
»Es hält dich niemand auf.«
»Wovon sprecht ihr?«, fragte Anna, die mit einem Tablett mit Gläsern, Flaschen und einer Schale Oliven zurückkam.
Wir sagten Anna gute Nacht und traten in die halbe Stunde hinaus, die die dunkelste dieser Nacht sein würde. Es schauderte mich in dem kühlen Wind. Vom See unterhalb des Hügels, auf dem wir standen, konnte ich einen Seetaucher hören. Hinter den Bäumen pfiff ein Zug, ein kleiner Laut. Alles war mir von früher wohl bekannt. Es war, als wäre ich nicht mein halbes Leben lang weg gewesen.
»Erinnerst du dich?«, sagte er und ich wusste, was er meinte.
Wir gingen zur Kirche. Er schwieg. Als wir drinnen bei Anna gesessen hatten, hatte er geredet, aber es gab etwas, das ihn quälte, das er mit sich herumtrug und das er erzählen wollte. Meine Arbeit als Polizist und Ermittler hatte mich das gelehrt. Wenn Menschen Wissen bargen, das sie quälte, dann wollten sie davon erzählen. Nicht alle, aber alle, die keine Psychopathen waren.
Wir gingen an seinem Tempel vorbei und weiter zum See hinunter. Ich nahm einen Stein und schleuderte ihn flach übers Wasser, eins-zwei-drei-vier. Er warf auch einen, eins-zwei-drei-vier-fünf. Er war darin schon immer besser gewesen als ich.
Die Ringe, die der Stein auf dem Wasser hinterlief?, waren wie die Leben, die es eben noch gegeben hatte und die jetzt verschwunden waren, und danach wurde alles wieder glatt und still, eins-zwei-drei-vier.
Wir sahen die Silhouetten von zwei Schwänen draußen über den See gleiten wie schweigende Patrouillenboote. Die Dämmerung hatte dem Morgen Platz gemacht. Schon bald würden ein paar Boote mit Jungs ablegen, die nach Hechten angelten. Das hatten wir auch getan, Jacob und ich. Die Boote hatten dort hinten gelegen. Da lag jetzt auch ein Boot. Vielleicht war es sogar dasselbe.
Er nahm noch einen Stein auf.
»Möchtest du mir etwas erzählen, Jacob?«
Er warf wieder, eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs. Die Schwäne waren näher gekommen, glitten aber jetzt wieder davon.
»Du weißt, dass ich Pfarrer bin, Andreas.«
Ich nahm meinerseits einen Stein und warf ihn, eins-zwei-drei-vier.
»Ich habe meine Pflichten«, sagte er.
»Es war Stig«, sagte ich.
Er antwortete nicht.
»Er war es. Du musst nicht antworten. Du unterliegst der Schweigepflicht. Aber du hast es gewusst.«
»Was gewusst?« Seine Stimme war jetzt schwach. Er wirkte, als habe er keine Kraft mehr. Als könnte er nicht einmal mehr einen Stein aufheben.
Eigentlich wusste ich nichts, war mir in keiner Hinsicht sicher. Ich hatte lediglich während des Tages darüber nachgedacht und ein paar Anrufe getätigt. Stig und Kerstin hatten sich früher schon gekannt. Sie hatten ein Geheimnis. Oder einer von ihnen. Das hing mit ihren Kindern zusammen, Stigs Tochter und Kerstins Sohn. Dem Sohn von Bengt und Kerstin. Ihr Sohn, der Sohn. Vater und Sohn und der Heilige Geist.
Das Handy in meiner Brusttasche klingelte plötzlich, und der Laut breitete sich über dem Wasser aus. Jacob ließ den Stein fallen, den er trotz allem aufzuheben geschafft hatte.
Es war Anna.
»Kerstin hat mich eben angerufen«, sagte sie. »Sie war vollkommen verzweifelt.«
»Was ist geschehen?«
»Sie hat Stig etwas … ja, etwas erzählt, das ihn völlig fertig gemacht hat.«
»Dass er der Vater ihres Sohnes war. Jonas.«
»Woher weißt du das?«
»Ich wusste es nicht, ich habe es nur geglaubt.«
Jacob sah mich an.
»Sie hat dieses Geheimnis immer für sich behalten, in sich vergraben«, sagte Anna. »Kürzlich hat sie mir erzählt, dass es auch so bleiben solle, aber dann hat Jonas ihr erzählt, dass er ein Mädchen kennen gelernt hätte, und das war Helena.«
»Sonst wusste niemand davon?«
»Kerstin war sich nie hundertprozentig sicher, dass Jonas der Sohn von Stig ist. Bengt hingegen war immer misstrauisch. Aber als, ja als sie von Jonas und Helena gehört hat, da hat sie es Stig erzählt.«
»Wann war das?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wo ist Kerstin jetzt?«
»Zu Hause, glaube ich.«
»Ist sie allein?«
»Bengt wird wohl da
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