Winterland
sein.«
»Wo ist Stig?«
»Das ist das Problem. Sie hat versucht, ihn zu erreichen, aber er ist weg.«
»Weg?«
»Er ist jedenfalls nicht zu Hause. Sie meint, auch Lena wisse nicht, wo er sei.«
Wir gingen schnell zu Lenas und Stigs Haus hinüber. Es war nicht besonders weit. Jacob atmete schwer und unregelmäßig, als würde sein Herz doppelt so schnell schlagen.
»Wie viel wusstest du?«, fragte ich.
Er antwortete nicht.
Wir konnten Lena durch die Fenster sehen, sie ging von einem Zimmer ins andere. Dann sah sie uns und kam raus.
»Wo ist er?«, rief sie von der Treppe. »Was ist denn passiert?«
Jacob machte einen Schritt vor, um sie zu umarmen. Sie gehörte zu seiner Herde. Aber die Kraft des Hirten reichte nicht aus.
»Kerstin hat mich angerufen«, sagte sie und sah mich an. »Ich habe nicht begriffen, was sie gesagt hat.«
Kerstin begreift es wahrscheinlich selbst nicht, dachte ich.
»Wann ist Stig weggegangen?«, fragte ich.
»Vor … mindestens vor einer Stunde.«
»Hat er etwas gesagt?«
»Nein.«
»Hatte er etwas dabei?«
»Wie?«
»Hat er irgendetwas mitgenommen?«
Ich wusste, dass er, ehe er Christ wurde, Jäger gewesen war. Das waren so die Dinge, die wir in unserem kleinen Dorf voneinander wussten.
»Hat er noch seine Gewehre?«, fragte ich.
Sie sah mich an, als würde sie mich nicht verstehen, doch ich denke, sie verstand mich sehr gut.
»Hat er einen Schrank, wo er sie aufbewahrt?«, fragte ich, und sie winkte uns mit gesenktem Kopf ins Haus.
In einem Arbeitszimmer im Keller war ein Glasschrank, der offen stand und Platz für zwei Elchstutzen bot: Es war aber nur noch einer da.
Ich sah sie an, sie sah mich an. Sie wusste, was ich dachte.
»Er war wohl nicht den ganzen Abend zu Hause, oder, Lena?«
Ich versuchte, sie ganz vorsichtig zu berühren. »Oder?«
Ruckartig ging sie die Treppe wieder hinauf, als würden die Muskeln ihren Willen beherrschen.
Wir standen draußen auf dem Hof.
»Er … er wirkte in der letzten Zeit sehr angespannt«, sagte sie.
Sie wusste es, sie musste es jetzt wissen, aber sie konnte es nicht verstehen. Sie hatte nicht begriffen, was Kerstin gesagt hatte. Aber wer konnte das schon begreifen?
Da hörten wir einen Schuss in der Nacht, die jetzt schon Morgendämmerung war, oder noch mehr als das. Die Sonne sandte zwei Strahlen über die Horizontlinie der Bäume, über den See. Der Nachhall des Schusses hing über dem See wie Morgennebel.
Treffen
Im Landesinneren war es noch wärmer, als läge dort die Quelle der Hitze. Als er aus dem Auto stieg, konnte er aber immer noch die Nähe des Meeres spüren, im Wind, der von Westen kam, lag noch ein Hauch von Salz. Es war später Nachmittag, die Sonne stand hinter dem Wald, der hinter dem Ort aufragte. Hinter dem Ort, in dem er aufgewachsen war, mit diesem Westwind und diesem Hauch von Salz und der Sehnsucht nach dem Meer. Und vielleicht nach noch weiter entfernten Orten.
Er war zwanzig Jahre nicht hier gewesen.
Alles war so wie früher, nur in veränderten Proportionen, kleiner. Er ging vom Bahnhof, wo er das Auto abgestellt hatte, zu Fuß. Hinter ihm fuhren die Pendelzüge durch.
Der Stadtkern war unverändert, aber das Haus, in dem er groß geworden war, war umgebaut worden. Vielleicht war es auch abgerissen und durch ein anderes ersetzt worden. Er kannte dort niemanden mehr. Seine Eltern lebten nicht mehr.
Neue Menschen waren darin, andere Stimmen in den neuen Räumen.
So ist das im Leben, dachte er. Alles wird abgerissen, und dann kann man versuchen, es wieder aufzubauen, aber das ist nicht so leicht. Wenn man sich nicht sehr viel Mühe gibt, wird es schief und kantig. Und manchmal genügt es nicht einmal, sich so viel Mühe zu geben.
Es gab eine Erklärung dafür, warum er all die Jahre nie zurückgekehrt war. Es war der gleiche Grund, warum er jetzt wiedergekehrt war. Nein. Nur ein Teil der Erklärung. Oder war das der Grund? Plötzlich konnte er nicht mehr klar denken. Die Erinnerungen umfingen ihn wie die Wärme, die jetzt schwer und klebrig auf ihm lag.
Er wusste, dass die träge und schwere Ruhe, die wie eine Daunendecke über dem Ort lag, durch seine Ankunft zerrissen werden konnte.
Es gab hier ein schreckliches Geheimnis, und er war ein Teil davon. Es gab hier ein Rätsel, das immer noch ungelöst war.
Er war das letzte fehlende Puzzleteilchen.
Die wenigen Gesichter im Café waren ihm alle fremd. Irgendwie schienen mehr Leute wegzuziehen als dazuzukommen.
Die meisten
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