Winterland
nichts mehr.
Der Steg
Einer der schönsten Tage, die Gott je geschaffen hatte, neigte sich seinem Ende zu. Die Sonne war auf dem Weg zu anderen Orten, doch sie würde in ein paar Stunden wieder zurück sein.
Nach dem zweiten oder dritten Schlag verlor der Junge das Bewusstsein. Er sah ein rotes Dunkel. Er hörte die Stimme nicht mehr, die ihm ins Ohr schrie.
Es gab zwei Gründe, warum an diesem Morgen ausgerechnet Erik Winter, den Wind in den Haaren, auf dem Achterdeck des Polizeibootes stand. Der erste war seine Arbeit:
Er war Kriminalkommissar, und das war eine der Dienstreisen, die zu diesem Job gehörten. Dienstreisen zum Abgrund.
Der andere Grund: Er kannte einen von den Eltern des Jungen, der am Abend vorher misshandelt worden war und jetzt im Koma lag. Oder hatte ihn gekannt.
Winter ging am Anleger von Brännö an Land. Er war nicht der Einzige. Die Fähre durch die Schären, die gleichzeitig anlegte, war voller Menschen, die einen Tag auf den Inseln verbringen wollten: Asperö, Brännö, Styrsö und Vrångö, ganz draußen, wo sich das Meer zu einem weiten, offenen Horizont ausbreitete.
Winter hatte eine Kollegin mitgebracht. Vier Augen waren oft besser als zwei, zwei Köpfe besser als einer, und so weiter.
»Es wird ein heißer Tag werden«, bemerkte Kriminalinspektorin Aneta Djanali.
»Es ist bereits ein heißer Tag«, entgegnete Winter und machte einen letzten Schritt auf die Frau zu, die gekommen war, um sie abzuholen.
Sie standen an einer Bucht auf der anderen Seite der Insel. Die Sonne war noch nicht richtig dorthin gekommen, das Wasser lag im Schatten, und das Bootshaus wirkte schwarz, obwohl es rot angestrichen war. Die Umgebung war abgesperrt. An einem Steg lag ein Schärenkahn. Die Wasseroberfläche war still. Wie leblos, dachte Winter und wandte sich der Frau zu, die ihnen den Weg hierher gezeigt hatte.
Sie hatte einen schwarzen Ring der Erschöpfung unter dem einen Auge, nur unter dem einen, als hätte sie sich während der Nacht in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen befunden. Das wird wohl so gewesen sein, dachte er. Und er dachte auch, dass sie sich nicht verändert hatte, seit sie während eines sehr kurzen Sommermonats vor zwanzig Jahren ein Paar gewesen waren. Ein Sommer wie dieser hier.
Elisabeth Lidner machte eine hilflose Geste zum Bootshaus, das nicht viel größer war als ein Spielhäuschen.
»Da drin hat er gelegen«, sagte sie. »Johan. Hat da drin gelegen.«
»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Winter.
»Seine … seine Freundin«, antwortete Elisabeth Lidner. »Liv. Sie heißt Liv.«
»Um vier Uhr morgens?«, fragte Winter. Er hatte einen kurzen Bericht von der Leitzentrale der Wasserschutzpolizei erhalten, die den Notruf entgegengenommen und auch dafür gesorgt hatte, dass der Junge schnell ins Sahlgrenska-Krankenhaus eingeliefert wurde. »Was hat sie um vier Uhr morgens hier gemacht?«
»Ich weiß nicht«, sagte Elisabeth Lidner.
»Waren sie in der Nacht zusammen?«, fragte Winter.
»Sie sagt, sie seien nicht zusammen gewesen«, erwiderte Elisabeth Lidner und fing wieder an zu weinen.
Winter und Aneta Djanali warteten am Bootshaus. Die Mutter von Johan Lidner war auf dem Weg ins Krankenhaus. Ihr Mann wachte bereits dort am Bett des Jungen. Die Freundin, Liv, sollte in ein paar Minuten zum Bootshaus kommen. Die Sonne war schneller als sie, das Häuschen wirkte nicht länger schwarz. Die Sonnenstrahlen beleuchteten den Schuppen wie Scheinwerfer. Winter konnte die Flecken auf dem blank gewetzten Holzfußboden sehen. Es kann sein, dass ich am Tatort eines Mordes stehe, dachte er. Ehe dieser strahlende Tag vorüber ist, werden wir es wissen.
»Ich bin oft hier gewesen«, sagte er und nickte zum Steg hin. »Das dort war unser Steg.« Er sah wieder zum Bootshaus. »Und das da war unser Bootshaus.« Er schaute Aneta Djanali an. »Ist lange her.«
»Wie alt ist Johan?«, fragte Aneta Djanali.
»Achtzehn«, antwortete Winter. Er sah mit zusammengekniffenen Augen über die Bucht, die in der Sonne silbern glitzerte. »Sie hat damals schon davon gesprochen, dass sie Kinder wollte.« Er hielt die Augen immer noch zusammengekniffen. »Aber ich war dafür nicht der Richtige.« Nun zog er die Sonnenbrille aus der Brusttasche. »Jedenfalls nicht damals.«
Hinter den schwarzen Brillengläsern wurde alles, was scharf war, sofort weicher und milder, braun anstelle von rot und weiß.
»Kannten Sie ihren Mann?«, fragte Aneta Djanali. »Den Vater von
Weitere Kostenlose Bücher