Winterland
Johan?«
»Bin ihm nie begegnet«, erwiderte Winter.
»Da kommt Liv«, sagte Aneta Djanali und wies mit dem Kopf zu der Silhouette, die plötzlich auf dem Weg zu sehen war.
»Der Mann von Elisabeth ist tief religiös«, sagte Winter wie zu sich selbst.
»Sie nicht? Ich meine, Elisabeth?«
»Das weiß ich nicht«, meinte Winter.
»Was heißt das eigentlich?«, fragte Aneta Djanali, »dass jemand tief religiös ist?«
»Das weiß ich nicht«, wiederholte Winter. »Aber die Freikirchlichen sind hier auf den Inseln ziemlich stark.«
Das Mädchen hatte einen verschreckten Ausdruck in den Augen. Sie saßen auf dem Steg. Winter wusste, dass er hier irgendwo seinen Namen hineingeritzt hatte. Es war dasselbe Holz, Hunderte von Jahren alt, größer als das Leben: Es war da gewesen, als er hierher gekommen war, und es würde noch da sein, wenn er weg war.
Sie hatten sich eine kleine Weile unterhalten. Das Mädchen sah auf das Holz hinunter oder in das Wasser zwischen den Ritzen.
»Was hat Johan gestern Abend gemacht?«, fragte Aneta Djanali.
»Wir waren unten am Anleger«, erwiderte Liv, »zum Tanzen.«
Tanz auf dem Anleger von Brännö, dachte Winter. Eine alte und liebe Tradition.
Doch er wusste, dass nicht alle so dachten. Es gab Leute, für die war der Tanz ein Werk des Teufels. Der Tanz – und alles Böse, was er mit sich brachte.
»Was ist dann passiert?«, fragte Aneta Djanali.
»Was?«
»Sie haben sich getrennt, oder? Sie waren nicht den ganzen Abend zusammen.«
»Ja.«
Winter studierte Livs Profil, oder Halbprofil. Er konnte sehen, dass sie etwas wusste, was er erfahren musste.
»Das müssen Sie jetzt aber mal erklären«, sagte Aneta Djanali.
Gut, dachte Winter. Offene Fragen.
»Nun ja, es war nach zwölf, und ich war müde und bin nach Hause. Ich dachte, Johan würde auch nach Hause gehen.«
»Er ist nie zu Hause angekommen«, sagte Aneta Djanali.
Sie antwortete nicht. Winter betrachtete weiterhin ihr Profil, das eine Auge, das zwischen dem Steg und dem kohlschwarzen Gesicht von Aneta Djanali hin- und herflatterte. Hinter der kleinen Bucht war das Meer, und Winter konnte die Küstenlinie auf der anderen Seite der Bucht sehen. Den Strand, an dem er für sich selbst und seine Familie ein Haus bauen wollte, konnte er nicht sehen, aber er wusste, dass er dort lag. Erst vorgestern waren sie auf dem Grundstück gewesen und hatten Pfade zum Strand hin getrampelt. Er hatte ein Gefühl verspürt, das vielleicht Glück war.
»Und Sie sind dann ein paar Stunden später hierher gekommen?«, hörte er Aneta Djanali fragen.
Liv nickte schwach.
»Was ist passiert?«
Sie erzählte.
»Und dann haben Sie hier Johan gefunden«, unterbrach Aneta Djanali ihren Bericht.
Liv nickte wieder.
»Warum sind Sie hierher gekommen?«
»Ich … konnte nicht schlafen. Ich wollte einfach … ein bisschen rausgehen. Es war ja hell.« Plötzlich sah sie auf, als wäre sie überrascht, dass das Licht an diesem Morgen immer noch da war.
»Aber warum ausgerechnet hierher?«, fragte Aneta Djanali.
»Ich gehe immer hierher«, antwortete das Mädchen.
Am Nachmittag waren sie immer noch auf der Insel. Es gab viele Fragen zu stellen, und viele Menschen, denen man sie stellen musste. Doch die meisten potenziellen Zeugen waren mit den zusätzlich eingesetzten Fähren schon in der Nacht nach Hause gefahren.
Was war in der Nacht geschehen? Im Verlauf des Abends? Wem war Johan begegnet? Waren es mehrere? Hatte es irgendetwas mit dem Tanz zu tun? War er mit jemandem in Streit geraten?
Das schien nicht der Fall gewesen zu sein, zumindest soweit er das den Gesprächen mit älteren, mittelalten und jugendlichen Inselbewohnern entnehmen konnte, die beim Tanz dabei gewesen waren. Winter hatte bei der Kripo mehr Leute angefordert.
Jetzt oder nie.
Er hatte im Sahlgrenska angerufen und mit dem Arzt gesprochen. Vielleicht würde Johan nie wieder aufwachen. Es waren entscheidende Stunden.
In einem Café, ein paar hundert Meter vom Hafen entfernt, arrangierte er schnell ein Gespräch mit vier Jugendlichen, die auf dem Tanz gewesen waren. Sie waren sechzehn, siebzehn und achtzehn Jahre alt.
»Was sagen eure Eltern, wenn ihr da zum Tanzen geht?«, fragte Winter.
Einer grinste etwas verlegen. Das war auch eine Antwort.
»Gibt es Kämpfe mit den Jugendlichen aus der Stadt?«, fragte Winter.
Keine Antwort.
»Ich habe jedenfalls gehört, dass das so sei«, setzte er hinzu und wandte sich dem Jungen zu, der ihm am nächsten saß.
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