Winterland
»Oder?«
»Na ja«, brummte der Junge.
»Worüber streitet ihr?«
»Ähm«, meinte der Junge.
»Das ist schon etwas mehr als nur Stadtjungs gegen Inselbewohner, oder?«
Winter wandte sich dem Mädchen in der Gruppe zu. Sie schien am ältesten zu sein.
»Da kommen ja wohl welche rüber, um Drogen zu verkaufen, oder?«
Es war Abend und so hell wie immer. Winter und Aneta Djanali parkten vor dem Haupteingang des Krankenhauses. Außerhalb des Autos war es warm. Aneta Djanali schien die starke Abendsonne direkt in die Augen.
»Meine Eltern haben sich nie an dieses Licht im Sommer gewöhnen können«, sagte sie und sah sich nach den langen Schatten um. »An die Nacht, die nie kommt. Ich erinnere mich noch, dass meine Mutter sagte, auf die Dunkelheit hätte man sich in Burkina Faso wenigstens verlassen können.«
Winter sah die Gestalt von Johan Lidner durch eine Glaswand. Er sah auch den Vater, Martin Lidner. Der Mann saß mit wie zum Gebet gefalteten Händen da.
Elisabeth Lidner war wieder auf der Insel.
Winter hatte sie gefragt:
»Habt ihr euch keine Sorgen gemacht, als Johan nicht sofort nach Hause kam?«
»Er hat angerufen und gesagt, dass er bei Liv übernachten würde«, hatte sie geantwortet. »Ich wollte nicht dort anrufen und den Eindruck erwecken, dass ich misstrauisch sei.«
»Aber Martin hat sich dennoch aufgemacht, um nach ihm zu suchen?«
»Das war später«, hatte sie gesagt, »nachdem Liv angerufen hatte.«
»Also, wie war das nun«, hatte Winter noch einmal gefragt, »hat Martin sich aufgemacht, nachdem Liv angerufen hatte?«
»So war es wohl«, hatte sie geantwortet.
»Ah, Sie sind es«, sagte Martin Lidner, der aufsah, als Winter sich im Nebenraum neben ihn gesetzt hatte. Das Licht war so blau und kalt wie ein Tag ohne eigenes Leben.
Winter war für Martin Lidner ein Fremder. Er wusste nicht, ob Elisabeth ihm von ihrer früheren Beziehung erzählt hatte. Sie war es gewesen, die ihn am Morgen angerufen hatte, aber das spielte keine Rolle.
Winter stellte sich vor.
»Ja, ich weiß, wer Sie sind«, sagte Lidner.
Er hatte seine Hände fester verschränkt, wie zu einem Gebet, das niemand unterbrechen konnte. Seine Hände sahen aus wie ein Stück Stein.
»Wann sind Sie zum Bootshaus gekommen?«, fragte Winter.
»Was? Was sagen Sie?«
»Wann sind Sie zum Bootshaus gekommen? Wo Johan lag?«, fragte Winter.
»Nachdem … nachdem das Mädchen angerufen hatte. Liv. Sie war dort gewesen.«
Lidner sah seinen Sohn an. »Das war danach.«
»Aber Sie haben sich schon früher aufgemacht, oder?«
»Habe ich das?« Lidner hielt seine Hände immer noch gefaltet. Sein Blick schien jetzt nach innen gewandt. »Vielleicht habe ich das. Ich konnte nicht schlafen. Es war eine warme Nacht.«
»Wohin sind Sie gegangen?«
»Wohin ich … was soll das? Was meinen Sie?«
Winter antwortete nicht. Er sah von Martin Lidner zu seinem Sohn. Das Gesicht des Jungen war so weiß wie das Kissen. Aber sein Zustand hatte sich im Laufe des Abends verändert, er war nun das, was man »kritisch, aber stabil« nannte. Welche Schäden von seinen Schädelverletzungen eventuell zurückbleiben würden, wussten die Ärzte noch nicht, aber Johan würde wahrscheinlich überleben.
»Johan wird es schaffen«, sagte Winter, während er das Gesicht des Jungen immer noch anschaute.
Martin Lidner sagte nichts. Winter wandte sich ihm zu. Lidner schloss die Augen über seinen gefalteten Händen. Betete er? Oder suchte er andere Antworten? Oder wusste er einfach nicht, was er mit seinen Händen anfangen sollte?
Es waren dieselben Hände, dachte Winter jetzt. Es konnten dieselben Hände sein.
Er sah wieder zu dem Jungen. Johan könnte sein eigener Sohn sein.
»Er hatte Amphetamine im Körper«, sagte er und wandte seinen Blick wieder Lidner zu.
Dieser antwortete nicht.
»Nicht viel, aber sie waren nachweisbar«, fuhr Winter fort.
»Diese … diese … Teufel«, sagte Lidner, und das war kein Fluch. Er sah jetzt zu Winter. Sein Blick war klar.
»Die … die kommen hierher«, stieß er hervor, »die kommen hier raus zur Insel, zu uns, mit … mit diesem Zeug.«
»Wie lange hat Johan schon Drogen genommen?«, fragte Winter.
»Ich weiß es nicht«, sagte Lidner jetzt. In seiner Stimme war keine Kraft mehr. Winter konnte ihn kaum hören. »Ich weiß nicht, wie lange das Böse schon in seinem Körper Wohnung genommen hat.«
»Was haben Sie gesagt?« Winter beugte sich etwas vor.
»Ich habe Sie nicht richtig
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