Winterliebe: eine Anthologie aus fünf sinnlich-romantischen, humorvollen und homoerotischen Love Storys (German Edition)
während er mir seine EC-Karte reicht.
„In einer Stunde und 41 Minuten“, antwortete ich mechanisch. Gleichzeitig sonne ich mich in seinem Interesse an meiner Person. Vielleicht sollte ich öfter krank werden?
Noch eine Stunde und 40 Minuten, korrigiere ich mich innerlich, als der Betrag abgebucht wird und das EC-Gerät summend die Belege ausspuckt. Maren braucht ein wenig länger. Eigentlich könnte Dirk den Platz vor der Kasse räumen und zu ihr gehen, aber er bleibt stehen und beobachtet mich. Ich bin überrascht, wie mild seine Eispickel-Augen sein können. Schließlich schüttelt er langsam den Kopf, als wäre er zu einem Entschluss gekommen, der ihm nicht gefällt. Unerwartet bietet er mir seine Hand an: „Sieh zu, dass du bald nach Hause kommst, damit sich jemand um dich kümmert.“
Ich greife zu. Seine Finger sind wunderbar kühl, sodass ich sie ihm am liebsten klauen und mir auf die Stirn legen würde. Ich denke daran, dass ich gestern Abend meine Mutter angerufen und den Besuch bei meiner Familie abgesagt habe: „Ich fahre heute nicht mehr heim. Nicht bei dem Wetter und mit Fieber.“
„Heim?“, fragt Dirk verwirrt.
„Zu meinem Clan“, erkläre ich. Meine Denkprozesse sind stark verlangsamt. Woher soll Dirk wissen, dass ich Weihnachten in Ermangelung eines festen Partners bei meinen Eltern verbringe?
„Ach so“, nickt er und lässt sich von Maren seinen Einkauf geben. Sie hat die Tüte vergessen, aber er scheint sich nicht daran zu stören. Zusammen mit seiner wunderbaren Hand verschwindet das Buch in seiner Manteltasche. „Na wenigstens musst du dir keine Gedanken über fehlende Geschenke machen.“ Es klingt nicht sarkastisch, eher nach einem Versuch, mich aufzumuntern.
„Hoffentlich freut deine Mutter sich“, erwidere ich mit einem schwachen Lächeln. „Ich wünsche dir frohe Weihnachten.“
„Ich dir auch. Und gute Besserung.“
Es ist ein eigenartiger Abschied. Ich weiß nicht, warum. Er hat etwas Endgültiges, das tief in mein wehleidiges Herzchen schneidet. Jedenfalls ist mir zum Heulen zumute, als er sich abwendet und geht.
Ich hasse Weihnachten.
Um kurz nach zwei ist es an mir, die Vordertür zu verschließen. Surrend erwacht die Elektronik zum Leben, mit deren Hilfe sich die Schutzgitter vor die Schaufenster senken. Ich bin so erleichtert, dass mich ein kurzzeitiges Hochgefühl erfasst. Es hält nicht lange an, wird gnadenlos von der Erschöpfung verdrängt. Ich muss ins Bett.
Ich bestücke meinen Rucksack mit den guten Gaben unserer Lieferanten, hülle mich in meinem Mantel und wünsche den anderen gute Erholung, bevor ich durch die Hintertür nach draußen trete.
Der Schnee knirscht unter meinen Schuhen. Sein beißendes Aroma fegt mir entgegen, dringt in meine Nase und macht sie kurzzeitig frei. Die Kälte schneidet in mein Gesicht. Für die Feiertage sind grausame Temperaturen angekündigt worden. Es kommt mir vor, als wäre es seit dem Morgen bereits kälter geworden.
Der Marktplatz, an dem unsere Buchhandlung liegt, erinnert an ein russisches Wintermärchen. Das altehrwürdige Rathaus und der Stadtbrunnen tragen kristallinen Zuckerguss. Die Heiligenstatuen unter dem Dachfirst der Kirche präsentieren sich stolz im weißen Kleid aus Schneeverwehungen. Die mit Tannengrün geschmückten, beleuchteten Drahtsterne über dem Platz verbreiten ein warmes Licht.
Vereinzelte Personen bewegen sich unsicheren Fußes zwischen den geschlossenen Buden des Weihnachtsmarkts. Ich grüße, obwohl ich sie in ihrer dicken Winterkleidung nicht erkenne. Aber wer außer den Einzelhändlern, die ihre Läden schließen, ist jetzt schon unterwegs?
Ob man sich mag oder nicht, zu Weihnachten sind wir eine eingeschworene Familie. Ich muss nicht mit dem Lehrling im Spielwarenladen nebenan sprechen, um zu wissen, wie erschöpft er ist. Ich muss nicht fragen, wie es der Filialleiterin der Drogerie von gegenüber geht, um zu wissen, dass sie ebenso müde ist wie ich.
Wir haben es wieder einmal geschafft und ich bin stolz auf uns.
Schaudernd ziehe ich die Schultern hoch, als eine kalte Böe mir frontal ins Gesicht schlägt. Nicht mehr weit, nicht mehr lange. Halb erwarte ich, dass unter mir der Schnee zu dampfen beginnt. Ich huste. Vielleicht hat Dirk recht. Vielleicht hätte ich mich krankmelden sollen. Der Weg zur Straßenbahn erscheint mir unendlich weit. Wenn ich daran denke, dass ich vier Stockwerke überwinden muss, um meine Wohnung zu erreichen, wird mir schlecht.
Ich ko nzentriere
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